Verhaltensökonomie
Lenkung des Individuums

Angela Merkel will mit den Strategien des “Nudging” effektiver regieren. Damit rücken Erkenntnisse der Verhaltensforscher Richard Thaler und Cass Sunstein in den Fokus der Politik. Doch um was handelt es sich dabei genau?

Nudging

Foto: jetheriot / Flickr / CC BY 2.0

Von Julian Mintert

Fliegen auf Urinalen in öffentlichen Toiletten sind nicht lediglich eine Verzierung. Sie verbessern die Zielgenauigkeit der Männer und sorgen so für mehr Sauberkeit in unzähligen sanitären Einrichtungen. Dieser kleine psychologische Trick ist der erste in einer langen Liste von Beispielen, die zeigen, wie eine scheinbar unscheinbare Veränderung große Wirkung hat.

Die intelligente Gestaltung von Entscheidungssituationen ist nichts Neues. Supermärkte verführen ihre Kunden schon seit langem mit Duftstoffen. Gemüseabteilungen werden speziell belichtet, um die knalligen Farben hervorzuheben, und Obst und Gemüse mit Wasser beträufelt, damit sie möglichst frisch aussehen. Süßigkeiten werden im Kassenbereich platziert, damit sie leichter im Warenkorb landen. Die Art und Weise, wie uns etwas präsentiert wird, hat entscheidenden Einfluss auf unsere spätere Auswahl.

Die neu gegründete “Science of Choice”- eine Kombinationen verschiedener Schulen und Denkrichtungen aus Psychologie, Ökonomie und weiteren Verhaltenswissenschaften – liefert seit kurzem die Gründe, warum Menschen so leicht verführt werden. Sie nutzt Erkenntnisse darüber, wie das menschliche Gehirn Informationen verarbeitet und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass der Mensch bei weitem nicht so rational ist, wie er gerne glaubt. Nicht grundlos scheitern viele Leute zum x-ten Mal an Diäten, lassen sich von grellen Farben und Werbeslogans zum Kauf verleiten und verschieben wieder einmal ihre Probleme auf Morgen. Wer schafft es schon, sich freiwillig mit Organspende zu beschäftigen oder mit 27 einen Rentenplan auszuarbeiten?

Die prominentesten Vertreter der Science of Choice sind Richard Thaler und Cass Sunstein. Den Kern ihres Buches „Nudge: Decisions about Wealth, Health and Happiness“ bildet die Abkehr vom Homo Oeconomicus hin zum Menschen wie er ist. Sie unterscheiden in diesem Zusammenhang zwischen Humans und Econs. Die größten Probleme von Humans sind ihr Mangel an Selbstkontrolle; ihr Hang dazu Probleme auf Morgen zu verschieben, ihre Vorliebe für ungesundes Essen, vor allem aber ihre Trägheit. Von anstehenden Entscheidungen sind sie häufig überfordert und diese treffen sie am Ende meistens aus dem Bauch heraus. Der Aufwand der betrieben wird, um einen passenden Rentenplan auszusuchen, steht in der Kosten-Nutzen-Rechnung im Verhältnis zu all den schönen Dingen, die man sonst tun könnte. Oft werden Abkürzungen oder sich an Daumenregeln benutzt, um zu einer Entscheidung zu gelangen.

Econs hingegen verhalten sich immer ideal. Sie sind die Agenten aus den ökonomischen Modellen. Haben sie alle relevanten Information zur Verfügung, errechnen sie ihren maximalen Nutzen und handeln entsprechend. Ihr Pendant tut dies nicht. Intrinsische Defizite halten Humans davon ab, so zu handeln, wie es eigentlich ihren Präferenzen entspräche. Experimente zeigen, dass selbst wenn Humans alle Informationen zur Verfügung haben und ein bestimmtes Ziel verfolgen, sie Entscheidungen treffen, die schlichtweg sub-optimal sind. Dieses Phänomen erklären die Scholaren mit dem Konzept einer beschränkten oder verkappten Rationalität. Der Mensch leidet an sogenannten Biases, Verzerrungen und Befangenheiten der eigenen Wahrnehmung, die er selbst kaum zu überbrücken vermag. Diese sind ebenso extern (die Beleuchtung im Supermarkt) wie intern (Dinge auf die lange Bank schieben). Der Verstand ist für sie ebenso anfällig, wie die Emotionen. In der Regel bleiben die meisten kognitiven Bearbeitungsfehler, und damit schlechte Entscheidungen, unentdeckt und können daher auch gar nicht korrigiert werden. Das macht sie zudem ungemein hartnäckig.

Der Economist beschreibt das von der Verhaltenswissenschaft gezeichnete Menschenbild wie folgt: “(…) fallible: lazy, stupid, greedy and weak: loss-averse, stubborn, and prone to inertia and conformism.” Alles deutet also darauf hin, dass Menschen denkbar schlechte Entscheidungsträger sind, denen es nicht einmal gelingt, ihr eigenes Glück zu maximieren.

Wenn menschliche Entscheidungen in der Tat so schlecht sind, wie behauptet wird, dann benötigen Humans offensichtlich Unterstützung. Diese missliche Lage nehmen Thaler und Sunstein zum Anlass, ein politisches Konzept zu ihrer Behebung vorzustellen: den libertären Paternalismus. Schlechte Entscheidungen sind nämlich nicht nur kostspielig für die betroffene Person selbst, sondern ebenso für den Staat. Beispiele hierfür sind der Energiekonsum eines Haushalts, Rentenpläne, Verschuldung sowie die bereits angesprochene Gesundheit der Menschen.

Polithandbuch und Anleitung für den Staat: Der Libertäre Paternalismus

Ausschlaggebend für die Verbesserung von Entscheidungen ist laut Thaler und Sunstein die Manipulation des Kontexts, in denen sie getroffen werden. Am Beispiel einer Cafeteria lässt sich gut veranschaulichen, was ihnen vorschwebt.

Die meisten Menschen verfolgen Ziele. Sie versuchen Gewicht zu verlieren oder sich gesünder zu ernähren und scheitern trotz der guten Vorsätze nur allzu oft. Überall lauert die Versuchung, wie z.B. die Schokoriegel an den Kassen einer Cafeteria; langfristig wollen sie Gewicht verlieren, kurzfristig essen sie Schokolade – Morgen ist ja schließlich auch noch ein Tag.

Bei genau dieser Widersprüchlichkeit, zwischen Anspruch und Wirklichkeit, wollen Thaler und Sunstein Abhilfe schaffen. Sie sind überzeugt, dass der Konsum von ungesundem Essen schon allein dadurch reduziert werden kann, indem es weniger prominent zur Schau gestellt wird. Sie schlagen daher vor, das Produktarrangement so umzugestalten, dass ungesundes Essen, wie z.B. Schokoriegel, zwar weiterhin verkauft werden dürfen, aber durch eine andere Platzierung deutlich an Sichtbarkeit verlieren. Dadurch wird es wesentlich schwieriger gemacht, beiläufig zur süßen Versuchung zu greifen. Verspüren die Kunden dennoch das Verlangen nach Schokolade, müssen sie sich gezielt auf den Weg in die hinterste Ecke der Cafeteria begeben. Der Kontext ist entscheidend.

Mit diesem einfachen Schritt schieben sie der Impulsivität und Trägheit der Humans einen Riegel vor. Die Verlockung wird reduziert, ohne dass sich im Wesentlichen etwas verändert hätte. Ein solch minimaler Eingriff in die Entscheidungssituation, ohne Veränderung des Angebots, nennt sich Nudge oder Anschubser.

In einer Zeit, in der die Bevormundung vom Staat ohnehin heiß debattiert wird, entfaltet die Herangehensweise von Thaler und Sunstein enormen Charme. Statt den Verkauf von Supersize-Schokoriegeln und die Veranstaltung von Flatrate-Parties per Gesetz einfach zu verbieten, ist es mit Hilfe von cleveren Nudges möglich, das Verhalten der Bürger ganz ohne Verbote zu verändern und zu verbessern.

En gros bezeichnen Nudges eine vom Staat ausgehende, leichte, aber spürbare Lenkung, die sich die kognitive Architektur des Menschen zu Nutze machen, um den Bürger einen Anschubser in die richtige Richtung zu geben, ohne sie dabei über Bord zu werfen. Die ursprüngliche Auswahl bleibt erhalten. Der Staat hebt durch den umgestalteten Entscheidungskontext lediglich eine Option hervor. Nudges können jeder Zeit abgelehnt werden, da die ultimative Entscheidungsgewalt beim Individuum bleibt. Deswegen ist die Rede von einem Anschubser und nicht von einem Schubs. Dies ist die libertäre Komponente im libertären Paternalismus.

Der Staat als Löser interner Interessenskonflikte

Für die Verfechter dieser Form des “weichen” Paternalismus ist die bewusste Gestaltung des Kontexts sowohl effektiver als auch vertretbarer als eine Einschränkung der Auswahlmöglichkeiten- des herkömmlichen, “harten”, Paternalismus. Die Legitimation hat aber noch eine zweite wesentliche Säule. Statt der direkten Bevormundung des Staates, wie in der Beziehung zwischen Eltern und Kind, sind die Maßnahmen zur Verbesserung unserer Entscheidungen an unseren eigenen Standards gemessen. Nudges sollen jenes Verhalten heraufbeschwören, das man später weniger bereut. Wenn jemand, der abnehmen möchte, der Versuchung Eis zu essen erliegt, gibt es einen zweiten Teil derselben Person, die den vermeintlichen Genuss bereut. Mit anderen Worten: ein Jetzt- fügt einem Zukunfts-Selbst durch sein Handeln Schaden zu.

Diese Aufsplittung des Menschen in ein mindestens zweigeteiltes Selbst – das Jetzt- und das Zukunfts-Selbst – legt nahe, dass das aktuelle Jetzt-Selbst verrückt, masochistisch oder zumindest nicht-zurechnungsfähig sein muss, wenn das Zukunfts-Selbst stets unter seinem impulsiven Verhalten leidet. In jedem Fall herrschen Interessenkonflikte zwischen den beiden.

Eine Person, die gerne Gewicht verlieren möchte, schadet sich selbst in der Zukunft, wenn sie weiterhin Schokolade isst. Diesen Konflikt zu lösen macht sich der Libertäre Paternalismus zur Aufgabe. Die Leitmaxime ist den Bürger dahingehend zu befähigen, wie ein Econ zu handeln, als gäbe es keine Störfeuer. Die Aufgabe der Nudges und der staatlichen Nudge-Architekten ist die Entscheidungssituation von Biasen zu befreien, um die wahren Präferenzen freizulegen. Diese “authentischen” Präferenzen befinden sich in dem Selbst, das Zukunftspläne schmiedet, nicht aber im Jetzt-Selbst, welches Tag für Tag der Versuchung zum Opfer fällt. So weit so gut.

Ohne Widrigkeit zu Glück, Geld und Gesundheit?

Das Problem des libertären Paternalismus ist, dass sich im Kern nichts an der Bevormundung verändert: den Bürgern wird nicht mehr zugetraut selbstbestimmt zu handeln; nur dieses Mal mit der Unterstützung der Wissenschaft und dem Verweis auf ein ominöses, leidendes Zukunfts-Selbst. Durch die wissenschaftliche Basis und die libertäre Komponente umschiffen Thaler und Sunstein gekonnt die Probleme des herkömmlichen Paternalismus- der Einschränkung von Freiheit, Selbstbestimmung und Autonomie. Doch sie verpacken den Wunsch, Menschen zu sagen, was sie zu tun haben, lediglich geschickter. Denn statt den Bürgern das Problem bewusst zu machen, und den Diskurs zu führen, wird dieser Schritt übergangen und direkt am Verhalten angesetzt. Die Aussage, dass wir gesünder essen sollen, bleibt ein Imperativ.

Die intelligente Gestaltung verhilft den Betroffenen nicht, eine bessere, informierte Haltung einzunehmen. Der Ansatz zielt nicht auf eine Verbesserung des Verständnisses der eigenen Handlungen ab, sondern ist starr ergebnisorientiert. Darin besteht auch der Unterschied zu anderen Vorgehensweisen, um Verhalten zu verändern – wie etwa sozialen Kampagnen. Ein Nudge versucht ausschließlich das Entscheidungsverhalten eines Individuums zu verbessern und benötigt dafür auch keine explizite Zustimmung. Ein Nudge-Situation verlangt keine durchdachte Entscheidung. Ein bestimmtes Verhalten wird getriggert, ohne dass sich darunter eine bewusst getroffene Entscheidung befindet.

Die Tatsache, dass sämtliche Entscheidungssituationen vom Staat vorverdaut wären, ist und bleibt bedenklich. Die Gefahr besteht darin, die Bürger zu infantilisieren. Den Bürgern wird sämtliche Denkarbeit abgenommen, sie haben keinen Anreiz, sich weiter mit den Entscheidungen zu beschäftigen. Es gibt keine Lernkurve.

Von sich aus sind Nudges normreproduzierend. Sie geben keinen Impetus für etwas noch nicht Dagewesenes. Eine paternalistische Politik, weich oder hart, ist immer auch eine Politik der Mitte, in der abweichende Präferenzen explizit deklariert werden müssen. Der Staat siedelt gesunde Ernährung als objektiv geltende Norm an. Das mag zum einem zu Unbehagen bei denjenigen führen, die sich anders entscheiden, zum anderen lässt eine normreproduzierende Politik wenig Spielraum für die Weiterentwicklung von Präferenz und Verhalten. Wenn wir stets Richtung Obst und Gemüse getrieben werden, ist es schwierig eigene Vorlieben zu entwickeln; wir können nicht mehr auf Entdeckungsreise gehen.

Philosophisch betrachtet, geben vor allem Friedrich Nietzsches Betrachtungen Anlass zur Sorge. Nach Nietzsche ist das Leben mit Gott deterministisch, da mit ihm der Weg vorgegeben ist, und man sich infolgedessen nicht weiter mit seiner eigenen Existenz befassen muss. Es entbehrt den Menschen jedoch gleichsam der Früchte seiner eigenen Anstrengung; seinen eigenen Weg gefunden zu haben. Glück zu erleben, ist Mühsal zu überwinden; der Charakter wird hierdurch bestärkt. Erst im Überkommen werden die eigenen Möglichkeiten transzendiert. Ein Leben ohne Widrigkeiten wäre hingegen bedeutungslos.

Strukturelle Schwächen des libertären Paternalismus

Neben allgemeinen Bedenken am Paternalismus treten strukturelle Schwierigkeiten auf, die spezifisch für den libertären Paternalismus sind. Allein die Effektivität der Nudges ist umstritten. Rücken die Schokoriegel zurück an ihren ursprünglichen Platz an der Kasse, würde auch unser Konsum wieder steigen, da sich kein Lerneffekt und damit auch keine langfristige Verhaltensänderung einstellt. Andererseits wissen die Kunden nach einer Weile, wo die Süßigkeiten liegen, und machen sich direkt auf den Weg dorthin; das Jetzt-Selbst passt sich den neuen Bedingungen an.

Demnach gleichen Nudges einer momentanen Kompensierung für menschliche Defizite, eignen sich jedoch nicht als Dauerlösung. Sie müssten permanent angepasst und umgestellt werden. Als Element von Außen, kann ein Nudge sogar eine Störung darstellen, wenn eine betroffene Person zuvor eine nah-optimal Lösung für sich selbst- oder zwischen ihren „Selbsten“ gefunden hatte.

Nicht gesagt ist ebenfalls, ob alle Bürger auch wirklich allen kognitiven Anreizen der Nudges widerstehen können, damit die letzte Entscheidungsgewalt auch wirklich beim Individuum liegt. Wenn dies nicht möglich ist, verschwindet das libertäre Element und der libertäre Paternalismus geht direkt in einen harten über. Sind zudem Wissen oder Intelligenz an der Erkennung von Nudges beteiligt, wären Nudges zusätzlich elitär.

Ebenso beunruhigend ist die erkenntnistheoretische, epistemologische Messlatte, die zum Ermitteln der “authentischen” Präferenzen der Bürger dient. Sie ist nicht an das Gemeinwohl gekoppelt, und lässt sich damit auch nicht über herkömmliche paternalistische Argumente rechtfertigen – z.B. Eltern wissen was für ihr Kind am besten ist. Stattdessen beruft sich die Messlatte auf die Präferenzen des Zukunfts-Selbst. Von ihm ist aber nicht sicher, ob es stabil ist oder ob es überhaupt existiert. Anders ausgedrückt, gibt es diese Trennung der Selbste überhaupt?

Solange die Frage nach der Konstitution des Selbst im Raum steht, ist ein Appel an ihre endgültige Beantwortung mit Vorsicht zu genießen. Gibt es sie jedoch, bleibt aus ontologischer Sicht unklar, warum dem Zukunfts-Selbst zwangsläufig der Vorrang gegenüber dem Jetzt-Selbst eingeräumt werden sollte. Unter der Science of Choice wird die Beziehung einseitig dargestellt. Das Jetzt-Selbst könnte aber ebenso gut unter dem Zukunfts-Selbst leiden- das könnte sich zum Beispiel in Form permanenter Gewissensbisse ausdrücken.

Des weitern stellte das Bild der Humans einige Grundannahmen der Politik und Justiz in Frage. Ist das Jetzt-Selbst tatsächlich irrational oder gar verrückt, so müsste ihm eine verringerte Schuldfähigkeit eingestanden werden. Dürften Wahlen und Volksentscheide nach diesen Erkenntnissen überhaupt noch stattfinden? Schließlich kann von den Bürgern keine gut informierte Entscheidung erwartet werden.

Und nun?

Die Bredouille „schlechter“ Entscheidungen ist nicht ohne weiteres aufzuheben. Ihre Existenz aber einfach als unveränderlich gegeben zu akzeptieren, ist schwer zu verdauen. Der Aufklärungsphilosoph Marquis de Condorcet schrieb etwa, dass der Mensch unendlich perfektionierbar sei. Alle von den Wissenschaftlern aufgeworfenen Problemstellungen belegen lediglich, dass Menschen sich nicht ideal verhalten, nicht aber, dass sie es nicht könnten.

Der Staat hat vielmehr die Aufgabe, Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen das Individuum lernen kann, gute Entscheidungen zu treffen, es zu bestärken, und sollte ihm nicht von vornherein diese Fähigkeit absprechen.
Nach Martin Heidegger ist Sein Werden. Daher dürfen wir auch von keiner unveränderlichen Essenz des Menschen ausgehen. Nur weil der Mensch heute seinen Scheuklappen unterliegt, heißt das nicht, dass sich dasselbe Spiel auch Morgen vollzieht. Im Werden ist die Zeit ausschlaggebend. In diesem Sinne ist die Beschreibung vom Menschen, wie er ist, ahistorisch, nicht mehr als eine Momentaufnahme. Im libertären Paternalismus ist hingegen keine Zeit für das Werden und daher auch kein Raum für Verbesserung.

Zumindest philosophisch sind wir gut beraten, den libertären Paternalismus abzulehnen, da er im direkten Gegensatz zur Konzeption von Autonomie und Freiheit des Individuums steht. Der Existentialismus erwehrt sich u.a. explizit aller repressiven religiösen und politischen Systeme, die das menschliche Leben anhand von vorgegeben Werten definieren wollen. Im Falle des libertären Paternalismus wäre es sogar eine vorgegebene, unvermeidliche Form des Seins. Ob es nicht manchmal bequemer wäre, sich leiten zu lassen, ist eine andere Frage.

Julian Mintert hat Philosophie, Politik und Wirtschaftswissenschaften studiert.

Artikelbild: jetheriot / Flickr / CC BY 2.0

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6 Kommentare zu "Verhaltensökonomie
Lenkung des Individuums"

  1. Ich finde die Detailkritik nicht völlig plausibel. Wenn ich es richtig sehe, ist die Platzierung der Schokoriegel an der Kasse doch auch schon ein Paternalismus, jedenfalls ein Manipulationsversuch, und zwar mit dem einzigen Ziel, mehr Profit zu erzielen. Insofern scheint mir ein Manipulationsversuch, der immerhin darauf zielen würde, eine von ihr insgesamt vermeintlich mehr gewünschte Entscheidung herbeizuführen, nicht grundsätzlich schlimmer. Außerdem schließt der beschriebene libertäre Paternalismus eine vorhergehende Diskussion ja nicht aus, in der sich das Ziel einer gesünderen Ernährung als Konsens herausstellen könnte, und sich die Bürger also doch in die Entscheidung einbeziehen ließen. (Damit wäre auch das Problem der Infantilisierung adressiert, das ich ebenfalls sehe: https://www.freitag.de/autoren/tom-wohlfarth/die-infantilisierung-unserer-gesellschaft)
    Die implizierte Annahme der Science of Choice ist doch gerade auch, dass der manipulierte Schokoriegelkauf weniger “frei” ist als der generelle rationale Wunsch sich gesünder zu ernähren. Und wenn der Kunde irgendwann gelernt hat, wo die Schokoriegel neuerdings versteckt sind, scheint mir der gezielt unternommene Gang zu ihnen immerhin freier geworden! Eine Lernfähigkeit kann aber doch andererseits auch darin bestehen, dass ich mich daran gewöhne, keine Schokoriegel zu kaufen, und diese Gewohnheit durch ihren positiven Effekt, zb Gewichtsabnahme, bestätigt und gefestigt wird.
    Hier übrigens noch eine Perspektive, dass vermeintlich “irrationale” Bauch-Entscheidungen sogar die tatsächlich rationaleren sein können: https://hbr.org/2015/01/when-to-sell-with-facts-and-figures-and-when-to-appeal-to-emotions

  2. Übrigens scheint mir die Gemeinwohlorientiertheit etwa von gesunder Ernährung nicht unbedingt geringer als die der Profitsteigerung von Mars und Nestlé.

  3. Habnix sagt:

    Schlecht hören und sehen und nicht mit allen Sinnen dabei sein.

    Ist es ein Sache der Information die der Mensch benötigt?

    Vor Jahren als ein Tsunami im Südostasitischen Raum wütete.Im Fernseher kam eine Doku wo einem Mann zugerufen wurde, er möge da verschwinden, aber der Tsunami war schon so laut das er diese rettende Information gar nicht mitbekommen konnte.Was dem Mann noch fehlte, war ein Vorabinformation, die ihm hätte vielleicht sagen können, das ist ein tödlicher Tsunami.

    Wie hätte dieser Mann sich wohl entschieden,wenn er Informationen darüber gehabt hätte?Hätte er auch Zeichen erkennen können die ihm eine Gefahr signalisiert hätten?

    Waser das sich mehr als normal zurück zieht, das braucht auch ein Kraft die mehr als normal ist
    Wenn man am Rhein steht und beobachtet die Wellen am Ufer, wie sie ganz normal am Ufer plätschern und dann kommt ein Schiff schwer beladen tief im Wasser, mit aller Kraft Stromabwärts fährt, dann sieht man das diese Schiff einfluss auf das Wasser hat und einen kleinen Tsunami und Strömungen und Sog am Rhein verursacht.

    Das sind Informationen die zur Entscheidungsfindung beitragen können.

    Nehme ich jetzt diese verlockenden Süssigkeiten an der Kasse,wenn ich weis warum die dort liegen und nicht wo anders.

    Warum,wie so,weshalb

  4. Infoliner sagt:

    Wahrhaftig und gut geschrieben, danke. Besonders für die genau treffenden Schlußfolgerungen.

  5. Leander sagt:

    “Die intelligente Gestaltung verhilft den Betroffenen nicht, eine bessere, informierte Haltung einzunehmen. Der Ansatz zielt nicht auf eine Verbesserung des Verständnisses der eigenen Handlungen ab, sondern ist starr ergebnisorientiert. ”

    Das VERSTÄNDNIS für das Problem ungesunder, dick machender Ernährung ist bei breiten Schichten schon lange und umfangreich vorhanden.
    Das Problem ist, dass man nicht danach handelt.

  6. scarloc sagt:

    Der Autor scheint davon auszugehen, dass
    A) Supermaerkte staatliche Unternehmungen sind, oder die Einrichtungsanordnung beeinflussen koennen. und viel wichtiger:
    B) dass es so etwas wie neutrale entscheidungssituationen geben koennte. vor allem sein Beispiel im Supermarkt ist ziemlich ungluecklich gewaehlt, da die Platzierung der Produkte (teure Produkte auf Augenhoehe, suessigkeiten an der Kasse fuer quengelnde Kinder, Obst und Gemuese fuer die Motivierten gesuender zu essen, Alltagsprodukte wie Milch und Butter ganz hinten im Laden) immer strategischer Natur sind, nur eben nach kommerziellen Gesichtspunkten. Doch selbst wenn man versucht, alle “Manipulationsversuche” aus welcher Richtung auch immer kommend, auszuschalten, um die frei Entscheidung des Konsumenten zu gewahrleisten, ist das eben eine ziemlich utopische Vorstellung, da einfach zu viele Faktoren ins Spiel kommen. Oder moechte der Autor auch das Design der Produkte gleichschalten?
    C) Wie sollen diese “Lerneffekte” erzielt werden? Durch Aufklaerung, die, sollte man zumindest meinen, gegeben ist.

    Allerdings sollte insbesondere die Epistemologische Kritik sehr ernst genommen werden, insbesondere wenn diese Forschung in andere Bereiche des Lebens eindringt (Wahlen, Politik, Meinungsbildung etc.)

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