Der Politikprofessor Jan-Werner Müller vertritt die steile These vom Ende der Christdemokratie als politische Idee.
Von Matthias Hansl
Es ist etwas mehr als ein Jahr her, da hätte die Union bei der Bundestagswahl beinahe die absolute Mehrheit erreicht. Der Abstand zur SPD fiel so hoch aus wie zuletzt 1957, als Konrad Adenauer eindrucksvoll im Amt des Bundeskanzlers bestätigt wurde. Ausgerechnet inmitten dieser vielbeschworenen Renaissance der deutschen Christdemokratie verkündete nun Jan-Werner Müller am Geschwister-Scholl-Institut der LMU München das Ende des christdemokratischen Zeitalters. Müller, der an der Universität in Princeton Politische Theorie und Ideengeschichte lehrt, wollte von seiner „steilen These“ noch nicht einmal das notorisch christsozial regierte Bayern ausnehmen. Dafür lieferte er allerhand Gründe.
Nach Ende des Ancien Régime sei ein unlösbarer Konflikt zwischen Revolutionären und katholischer Kirche entbrannt. Wenn auch nicht der Vatikan, so habe sich immerhin der katholische Liberalismus mit dem irreversiblen Zerfall des absolutistischen Gottesgnadentums und dem unaufhaltsamen Siegeszug der Demokratie arrangiert. Als Ausgleich dafür, dass die Katholiken in den sauren Apfel der Demokratie beißen mussten, sollte dieser Prozess wenigstens erträglich gestaltet, die „Demokratie für die Katholiken lebbar“ gemacht werden. Spuren dieses christdemokratischen Projekts verfolgte Müller vom französischen Gegenaufklärer Joseph de Maistre über Alexis de Tocquevilles berühmte Amerika-Studie bis in die frühe Bundesrepublik zu dem bedeutenden Publizisten Eugen Kogon.
Historisch gesehen stand der Katholizismus laut Müller vor zwei Herausforderungen. Zum einen stellte der Anspruch auf demokratische Selbstbestimmung aus Sicht einer auf absolute Glaubensgewissheiten abstellenden Offenbarungsreligion eine illegitime Selbstermächtigung dar. Zweitens bedeutete Demokratie immer ein ergebnisoffenes Entscheidungsverfahren und somit strukturelle Unsicherheit, die stets dialektisch in die kollektive Sehnsucht nach Sicherheit und autoritären Lösungen umzuschlagen drohte. Zur Überwindung des prinzipiellen Vorbehalts des Katholizismus gegenüber der Demokratie hätten die katholischen Liberalen fortan auf drei Lösungen gesetzt: die Herstellung und Aufrechterhaltung eines christlich gesinnten Demos; die Einhegung des Demos durch politische Institutionen; und die Konsolidierung christdemokratischer Parteien, die christliche Interessen innerhalb der repräsentativen Demokratie verfolgten und verteidigten. Erst mit den Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen Parteien, argumentierte Müller, konnte die Erfolgsgeschichte ihren Lauf nehmen.
Müller skizzierte das christdemokratische Zeitalter nicht zuletzt als Emanzipation der Parteienbewegungen von der politischen Theologie des Heiligen Stuhls. Dieser habe dem Pluralismus der Repräsentativdemokratie und der Idee von vermittelnden Organisationen zwischen sich und den staatlichen Autoritäten lange ablehnend gegenübergestanden und so die Versöhnung von Christentum und Demokratie behindert. Schließlich habe der Vatikan jedoch umschwenken müssen und die christdemokratischen Parteien als katholische Interessenvertreter anerkannt, weil diese nach dem 2. Weltkrieg zu Volksparteien avanciert waren. Längst vertraten sie überkonfessionelle Interessen und regierten aus der Mitte der Gesellschaft. Nach christdemokratischem Selbstverständnis galten Kommunismus und reiner Liberalismus als materialistische Irrwege; dagegen sollten „mit rechten Mitteln linke Ziele“ erreicht werden.
Was ist davon heute noch übrig? Nicht viel, lautete Müllers Verdikt nach seinem versierten Parforceritt durch die westliche Ideengeschichte seit der Französischen Revolution. Eine Reihe von demokratiehemmenden Institutionen, inklusive der supranationalen Europäischen Union, deute zwar noch ein christdemokratisches Erbe an. Von einem christlichen Demos, der sich aus einer Interessenkoalition zwischen Mittelschichten und Bauernschaft zusammensetzt, könne in Zeiten globalisierter Zuwanderungsgesellschaften hingegen gar keine Rede mehr sein. Auch die Erosion der christdemokratischen Parteien in Europa spreche eigentlich eine deutliche Sprache. Die Implosion der italienischen Christdemokratie Anfang der 1990er Jahre und der darauffolgende Aufstieg Silvio Berlusconis seien dafür symptomatisch. Der deutsche Fall stelle insofern momentan nur „eine Ausnahme in Zahlen“ dar. Denn an den entfallenen strukturellen Voraussetzungen der Christdemokratie dürften auch die jüngsten Wahlerfolge einer nur noch dem Namen nach christdemokratischen Partei wenig ändern. Wie andere Großthesen auch, räumte Müller abschließend selbstironisch ein, kann jedoch auch das „Ende des christdemokratischen Zeitalters“ irgendwann von der Realität eingeholt werden. Francis Fukuyama lässt grüßen.
Der Artikel erschien im Original auf theorieblog.de und steht unter einer CC-Lizenz.
Ich weiß nicht, für mich klingt diese steile These durchaus wahrscheinlich. Interessant wäre eine Statistik, wie viele Unionswähler tatsächlich noch praktizierende Christen gleich welche Konfession sind. Gleichwie, es dürfte sich dabei um eine abnehmende Zahl handeln. Das Deutschland eine Ausnahme ist, dürfte nicht unwahrscheinlich sein, da es zu CDU/CSU keine konservative Alternative gibt. a) weil es neue Parteien in unserem Parteiensystem prinzipiell schwer haben und b) weil Parteien sich im rechten Spektrum schwerer definieren können, als im linken. (Was dabei herauskommt, lässt sich aktuell am Beispiel der AfD begutachten.) Mittel- bis langfristig wird so auch die Christdemokraktie aus Deutschland verschwinden und nur noch proforma ein C im Parteinamen tragen.