Der Liberalismus gehört zu den großen politisch-ideologischen Hauptströmungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Obwohl seine eigene Blütezeit vergleichsweise kurz war, ist seine Strahlkraft groß.
Viele andere politisch-ideologische Hauptströmungen definierten sich in klarer Gegnerschaft zum Liberalismus, etwa der Konservatismus, der Faschismus oder der Sozialismus. Im Folgenden soll ein kurzer Überblick zum Thema Liberalismus gegeben werden. Zu Beginn möchte ich vier Thesen zum Liberalismus aufstellen.
Vier Thesen zum Liberalismus
1) Liberalismus ist eine historische Grunddeterminante Europas seit der Aufklärung. Zentrales Postulat ist die Freiheit des Individuums, vulgo das Selbstbestimmungsrecht.
2) Die Grundforderung des Liberalismus ist die Beschränkung des staatlichen Interventionsrechts gegenüber der Individualsphäre. Dem liegt die Überzeugung zu Grunde, der Mensch sei ein Wesen, welches sich in Freiheit nach seinen eigenen Vorstellungen entfalten und nach diesen leben wolle. Das 19. Jahrhundert kann als Jahrhundert der Verfassungen gesehen werden. Die faschistischen und kommunistischen Massenbewegungen des 20. Jahrhunderts stellen dabei die Umkehrung der liberalen Grundsätze dar.
3) Der Liberalismus ist eine Gesellschaftsform. Eine bestimmte Gesellschaftsgruppe nimmt dabei für sich Anspruch, das perfekte System zu kennen und etablieren zu wollen. Sie bilden eine Meinung und tragen diese als Forderung an die Politik.
4) Der Liberalismus kann ein Prinzip politischer Organisation sein, dessen Zweck in der Sicherung eines möglichst großen Freiheitsraums für das Individuum liegt. Dazu gehören das Repräsentativsystem sowie die Gewaltenteilung als elementare Bestandteile („Nachtwächterstaat“). Damit verbunden ist die Vorstellung, dass Bedrohungen nur von außen kommen und soziale Spannungen oder ähnliches als Bedrohungsszenario nicht existieren. Dabei handelt es sich um eine bis heute lebendige Utopie. Es handelt sich um einen genuinen Topos liberalen Selbstverständnisses.
Zug der Frauen auf Versailles |
Der englische Liberalismus beginnt in der Aufklärung mit dem Realismus Lockes. Seine zentrale Abhandlung von 1690 „Treatments of government“ behandelt die Trias „Leben, Eigentum, Freiheit (life, liberty, property)“.
Der französische Liberalismus beginnt mit der französischen Revolution und dem Motto „liberté, egalité, fraternité“. Fraternité bedeutet in diesem Zusammenhang die Abschaffung von Ständen und Klassen. Dadurch entfallen innergesellschaftliche Konflikte. Der deutsche Liberalismus umfasst die Trias „Freiheit, Gleichheit, Bildung“.
Der englische Liberalismus
Der „Markt“ wird Aktionsfeld derer, die etwas besitzen und es dort handeln, um Gewinn zu erzielen. Ihre Herkunft ist dabei weniger wichtig als das Angebot, das sie präsentieren. Das damit verbundene Grundrecht der Freiheit erlaubt es dem Menschen nun, mit seinem Eigentum nach Gutdünken zu verfahren. Durch einen dadurch möglichen Aufstieg kann der Einzelne einen aristokratischen Lebensstil führen. Der Markt spielt selbst im englischen adeligen Gesellschaftssystem eine entscheidende Rolle, wo nur der Älteste den Adelstitel erbt und der Rest sich auf dem Markt bewähren muss.
Die Trägerschicht der Idee der liberalen Trias lässt niemanden im Marktgeschehen mitreden, der kein Eigentum hat und damit nicht die Freiheit besitzt, sein Eigentum zu disponieren. Hierauf begründet sich die entstehende Industriearbeiterschaft. Die Theoretiker der „political economy“ und Reform des politischen Systems vertreten diese Abschottung und konstituieren sich selbst als Klasse. Dieser Prozess vollzieht sich zuerst in England und dient dort als Vorbild. Liberalismus und Bürgertum sind im Vorurteil damit untrennbar verbunden. Die Industrialisierung gewinnt in England ab 1810 an Tempo und ist in den 1830er Jahren soweit fortgeschritten, dass die bürgerliche Klasse sich als solche begreift und rabiat gegen die Menschenmengen der „labouring poor“ zu kämpfen. Aufgrund der Zeitverzögerung ist die Abschottung des kontinentaleuropäischen Bürgertums gänzlich anderer Natur.
Wilhelm von Humboldt |
Die französische Entsprechung der englischen Trias entstand während der französischen Revolution und setzte sich durch die Napoleonischen Kriege fort. In Preußen entsteht durch den drohenden Untergang 1806 eine liberale Grundhaltung.
Die Formulierung „Freiheit, Gleichheit, Bildung“ findet sich in dieser Radikalität nicht bei den zeitgenössischen Autoren, nimmt jedoch praktisch 1:1 die Funktion des englischen Markts ein. Sie wirkt zugleich als gesamtgesellschaftlicher Regelmechanismus.
In der vorherigen aristokratischen Ständegesellschaft war Bildung nicht erforderlich, da der Stand vererbt und nicht erarbeitet wurde. Die Aufklärung stellte nun rationales staatliches Handeln in den Vordergrund und der „aufgeklärte Absolutismus“ forderte diese Rationalität von der Verwaltung ein. So konnte nicht nur auf Angehörige der feudal-aristokratischen Schicht zurückgegriffen werden, da diese nicht die nötige Kompetenz in dieser Menge aufwiesen, so dass ein Rückgriff auf nicht-adelige Akademiker nötig war. Bildung wird so zu einem Element antifeudaler Emanzipation.
Die Schicht der Arbeiter, die zu Sozialdemokratie und Sozialismus auf der einen, dem Nationalsozialismus auf der anderen Seite tendierten, kamen in ihrem Leben nie mit dem genuinen Liberalismus in Berührung. Vermutlich konnte der Nationalsozialismus auch wegen seiner dezidiert antiliberalen Thesen bei den Arbeitern so punkten.
Liberalismus als politisch-soziale Bewegung bis 1830
Liberalismus als politisch-soziale Bewegung bis 1850
Die Phase vom Umfeld der Julirevolution bis zum Ende der 1848er Revolution ist von der Vollendung der Industrialisierung gekennzeichnet. Damit verbunden sind wirtschaftliche und soziale Bewegungen, konkret zuerst in England, später auf dem Kontinent. Die Wahlrechtsreform in England, Reaktion auf die Julirevolution in Frankreich, wurde eingeführt, um die Bürger, die wirtschaftliche Macht erlangt hatten in das politische System einzubinden um sie sich nicht gegen den Staat entwickeln zu lassen. Deshalb kommt es in England auch nicht zu Revolutionen wie auf dem Kontinent.
Die Interessen des aufsteigenden Besitz-, Wirtschafts- und Bildungsbürgertums nahmen in dieser Epoche ein zunehmend stärkeres Gewicht ein. Dieses Gewicht in wirtschaftsliberaler Ausprägung wurde in England dominierend, während die Forderungen in Deutschland lediglich so bedeutend werden, dass gegen die Liberalen nicht mehr regiert werden kann. Aus den Versuchen, dies zu unterbinden, entstand die 1848er Revolution und das Parlament der Paulskirche. Dieses Parlament besteht zum Großteil aus dem Bildungsbürgertum und lässt das Wirtschaftsbürgertum beinahe vollständig außen vor.
Liberalismus von 1870 bis heute in Kürze im zweiten Teil
Sehr schoener Artikel. Eine Frage: ist die Formulierung „Freiheit, Gleichheit, Bildung“ von Ihnen oder findet sie sich in diesem Wortlaut bei einem der Zeitgenossen?
Ich konnte aufatmen. Stefan Sasse schreibt über Liberalismus …
und er sagt wirklich nichts falsches … weil er nichts gesagt hat
Naja, sozusagen so katastrophal war es nicht, aber wenn man schon ein bisschen genauer nachprüft, da stimmt kaum was wirklich
ZB:
(Nebenbei: “Realismus” – Was ist das? Wird da Empirismus gemeint?)
Als Begrüdner des politischen Liberalismus kann Locke gelten. Der Begrüdner des ökonomischen Liberalismus ist Hobbes. Mehr dazu:
http://horvath.members.1012.at/locke1.htm
…
Wie bitte? Um den Autor zu retten, sagen wir: Er hat es anders gemeint, er meinte damit den politischen Sieg des Liberalismus in Frankreich
…
usw
Sasse fiel mir zum ersten mal auf, als er sich als hauptamtlicher Spiegelfechter-Schreiberling vorstellte mit einem Loblied auf die USA, just als der NATO_Angriff auf Libyen losging.
Er behauptete wörtlich: “Ohne die USA wäre die Welt heute eine schlechtere.” – was man vielleicht noch als Arbeitsthese für einen Hollywood-Mainstream-SF-Drehbuchautor gelten lassen könnte, aber dass Herr Sasse weiß, wie sich die Welt ohne US-Imperialismus entwickelt hätte, ist schlicht – schon klar, oder? – darüber hinaus, dass die Aussage etwa so sinnvoll ist, wie “Ohne Sabberlatz für Babys würden Hunde lauter kläffen.”
Also ist es eigentlich kein Wunder, dass der selbige Herr Faschismus mit Kommunismus gleichsetzt und in seinem Ausflug ins 19.Jh. den Belesenen deutlich werden lässt, dass er munter fantasiert und noch nichts gelesen hat, was aus dieser Zeit stammt.
>>> dass er munter fantasiert und noch nichts gelesen hat, was aus dieser Zeit stammt.
Zumindest hat er keine Primärliteratur gelesen – da passt er großartig zu Jens Berger