Mauern — gestern und heute

Ein Denkanstoß zum 50. Jahrestag des Mauerbaus

Ein Gastbeitrag von Axel Weipert

Am heutigen Tag, dem 13. August, jährt sich der Bau der Berliner Mauer zum fünfzigsten Mal. In allen Medien wird das begierig zum Anlass genommen, um ausführlich über jenes „negative Faszinosum“ (Günter Schabowski) zu berichten. Dabei vergeht auch sonst kaum eine Woche, ohne dass nicht in irgendeiner Form an dieses Bauwerk erinnert würde. Es ist praktisch omnipräsent – und in den Köpfen der Menschen steht „die Mauer“ quasi symbolisch für die DDR und den Sozialismus allgemein. Doch was stimmt nicht mit dieser Erinnerungskultur?

Zunächst einmal: Natürlich war die DDR weit mehr als ein Stück Beton. Dass „drüben“ vieles im Argen lag, dass es weder Demokratie, noch Reisefreiheit, noch Bananen gab, wird niemand ernsthaft bestreiten wollen. Aber es gab eben auch anderes als diese immer wiederkehrenden Bilder von Todesstreifen und Selbstschussanlagen. In der populären Erinnerung an den ostdeutschen Möchtegernsozialismus – freilich nicht zu verwechseln mit der Geschichtswissenschaft, die hier häufig differenzierter bewertet – dominieren doch eigentlich nur zwei Begriffe die Diskussion: Stasi und Mauer. Dass sie auch für parteitaktische Interessen eifrig instrumentalisiert werden, versteht sich da fast von selbst. Welcher Politiker der Linken hat sich noch nicht dem Vorwurf ausgesetzt gesehen, IM gewesen zu sein? Und welchem jungen Idealisten, der von Gerechtigkeit träumt, wurde noch nicht mit dem Todschlagargument „Mauer“ begegnet?

Das eigentliche Problem ist aber ein anderes: Auch heute noch gibt es Mauern. Auch heute noch sterben dort Menschen. Nur kommt da offenbar kaum jemand auf den Gedanken, von der Existenz dieser Bauwerke auf den moralischen Bankrott der Gesellschaften dahinter zu schließen. Sie sind High-Tech-Anlagen, mit Infrarotkameras, Geräusch- und Bewegungsmeldern. Tausende von Soldaten und Polizisten werden hier eingesetzt. Der wahrscheinlich größte Unterschied zu „der Mauer“ besteht wohl darin, dass sie genau dem umgekehrten Zweck dienen: Sie sollen ausgrenzen, nicht einmauern. Doch wie einst in Berlin, sind auch heute die Gründe für einen illegalen Grenzübertritt vor allem wirtschaftliche. Die Flüchtlinge sind auf der Suche nach einem besseren Leben, nach Wohlstand.

Dafür sind sie sogar bereit, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Allein an der Grenze zwischen Mexiko und den USA sterben jährlich etwa fünfhundert Menschen – und damit ungefähr zwei bis drei Mal soviele, wie in 28 Jahren an der Berliner Mauer. Nicht alle durch Schüsse von Grenzschützern, viele auch durch Verdursten oder andere körperliche Gebrechen – aber sie würden diesen gefährlichen Weg nicht wählen, wenn sie legal einreisen könnten. Mittlerweile ist der Strom der Flüchtlinge, vor allem wegen dem desolaten US-Arbeitsmarkt, aber spürbar abgeflaut.

Auch anderswo sind die Grenzsicherungen keineswegs unblutig, wie zum Beispiel jene der beiden spanischen Exklaven in Marokko, Ceuta und Melilla. Dort starben vor einigen Jahren zahlreiche Menschen bei den tagelangen Versuchen, die Zäune zu überwinden. Mittlerweile wurden sie mit großem Aufwand ausgebaut. Ähnliches ist jetzt in Griechenland geplant, denn auch hier liegt einer der Brennpunkte der Migration in die Festung Europa. In Palästina dagegen erschwert die 760 Kilometer lange Sperranlage vor allem den Alltag – der Palästinenser, wohlgemerkt. Denn Israel hat die Mauern und Zäune auf deren Territorium gebaut, trennt so Bauern von ihren Äckern, Kinder von ihren Schulen, Menschen von ihren Arbeitsplätzen. Der Zweck besteht in diesem Fall vor allem darin, Terroristen den Zutritt zu Israel zu erschweren. Dennoch hat der Internationale Gerichtshof in Den Haag schon vor Jahren die Anlage als völkerrechtswidrig eingestuft.

Letztlich können Mauern aber Flüchtlinge höchstens behindern, wirklich aufhalten können sie sie nicht. Und sie erhöhen den Preis der Migration – vor allem natürlich für jene, die den Grenzübertritt mit dem Leben bezahlen. Mauern sind aber immer auch das Eingeständnis des Versagens der politischen und wirtschaftlichen Ordnung. Und das gilt für beide Seiten der Grenze. Denn die einen sind nicht in der Lage, ihren Bürgern ein lebenswertes Leben zu bieten, und die anderen sind nicht bereit, ihren Wohlstand zu teilen.

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Noch keine Kommentare zu "Mauern — gestern und heute"

  1. Lester sagt:

    Mauer in den Köpfen!

  2. Systemfrager sagt:

    (Seltsam)
    Eine sehr gute Darstellung und Analyse

  3. oberham sagt:

    Warum akzeptieren wir die Mauern? Vor allem, die Mauern in unseren Köpfen?

    Kleines Utopiebeispiel: Auf hundert Menschen in Deutschland kommt ein Millionär, nehmen wir an, die 99 restlichen sind total faul und antriebslos, und dumm und lustlos – und besitzen rein gar nix.

    Schwups, nach ca. zwei Wochen sind sie tot – es gibt noch 800.000 Millionäre.

    Ist blödsinn – klar –

    Aber nicht einmal ein reiches Land wie Deutschland ist in der Lage, Armut zu bannen, Würde für alle zu gönnen, der Millionär gibt lieber ein Vermögen für Abrenzung aus, als für Angleichung, er will sich erheben, desto höher desto besser – es gibt in Mumbai ein Hochhaus, direkt mit Blick auf zwei Slums – es gehört einem Milliardär, ich denke er wohnt kaum darin – doch es ist die beste Metapher die man sich für die Mauer in unseren Köpfen erdenken könnte – nur – es ist Realität – übrigens – das Gebäude ist so sicher wie Fort Knox.
    Natürlich steht eine hohe Mauer an der Grundstücksgrenze.

  4. Medley sagt:

    “Denn die einen sind nicht in der Lage, ihren Bürgern ein lebenswertes Leben zu bieten, und die anderen sind nicht bereit, ihren Wohlstand zu teilen.”

    Wohlstand schafft man nicht in den man in teilt, sondern in dem man in erwirtschaftet/erarbeitet. Und genau darauf sollten die Bemühungen der Länder konzentrieren, aus denen die meisten Armutflüchtlige kommen. Der Mauer der DDR war ein augenscheinlicher Beweis für die Minderwertigkeit, die mangelnde Attraktivität, die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit und für die Schwäche des Sozialismus und für das Versagen der ostdeutschen politischen Führung. Die überwiegend virtuelle Mauer der EU und die in Beton gegossene an der Grenze zur USA sind hingegen ein Beleg für die Überlegenheit, die Wettbewerbsfähigkeit, die Stärke und die Attraktiviät der freiheitlichen pluralistischen Demokratien und vorallem für deren marktwirtschaftliche Systemvarianten, die den Reichtum dieser Länder überhaupt erst möglich mach(t)en. Wäre der Kapitalismus zB. in den USA tatsächlich, ach so “unmenschlich”, so würden nicht jedes Jahr mehrere hunderttausende Menschen aus aller Welt versuchen legal sowie illegal in dieses Land zu kommen. Keiner würde freiwillig in Kauf nehmen, zu verdursten, wenn er für von seiner neuen Heimat nur Unglück und “Ausbeutung” für sich und seine Familie erwartete. Und aus genau dem Grund gibt es ja auch keine Massenemigrationsströme nach Venezuela, Cuba, Weissrussland, Iran oder Nordkorea, weil jeder weiß, dass man im Kapitalismus selbst unter den elensten Umständen immer noch besser dran ist, als unter den besten in diesen “fortschrittlichen” Ländern.

  5. Medley sagt:

    @Medley

    Korrektur!

    “Wohlstand schafft man nicht, in dem man ihn teilt, sondern in dem man ihn erwirtschaftet/erarbeitet. Und genau darauf sollten sich die Bemühungen der Länder konzentrieren, aus denen die meisten Armutflüchtlige kommen…….”

    Sorry. :o)))

  6. ernte23 sagt:

    @Medley: Zunächst möchte ich darauf verweisen, dass die Abgrenzung menschlich gegen unmenschlich unscharf ist, weil es auch menschlich ist, aus Menschenhaut Lampenschirme zu machen wie einst in Buchenwald.

    Der Mythos des amerikanischen Traumes ist es, der letztlich die Leute in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten treibt, und die Anbetung von Reichtum als solchem! Die Idee, dass, wenn es auf die eine Art nicht klappt, man die andere wählen kann, den ständigen Neuanfang, bis man auch zu denen gehört, die es geschafft haben. Diese Dynamik ist ohne Zweifel das Faszinosum der USA, blendet aber die Verlierer im Lotteriespiel völlig aus.

    Im Übrigen ist der Kalte Krieg vorbei, ein “Drüben” im Sinne dieser Epoche gibt es nicht mehr, so gern sie dies anscheinend hätten. Sie werfen jedenfalls Länder in einen Topf, die sich nur schwer miteinander vergleichen lassen und unterstellen, dass der Autor oder die Leserschaft, diese als fortschrittlich bezeichnen würde. Die meisten Flüchtlinge nach Europa und in die USA kommen aus neoliberal reformierten Marktwirtschaften, die sich sogenannten Strukturanpassungsprogrammen unterziehen mussten. Wie erklären Sie sich das?

  7. shivani sagt:

    Ich erlebe jeden Tag, dass Menschen auch mit Worten mauern. Es gehört schon ganz schön viel Achtsamkeit dazu, sich selber so gut zu beobachten, um sich wenigstens bewußt zu sein, dass man “mauert” und noch mehr, damit aufzuhören.

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