Enthüllungen zum Instrument des Interessenbegriffs
Von Sebastian Müller
Politik im Allgemeinen und politische Entscheidungen im Besonderen lassen sich besser verstehen, wenn das ideengeschichtliche, theoretische Rüstzeug bekannt ist, das einem politischen System oder einer politischen Kultur zugrunde liegt und diese legitimieren soll. In der abendländischen Kultur ist der Begriff des Interesses seit dem Ende des 16. Jahrhunderts zu einer zentralen Bedeutung gelangt. Das eigene Interesse zu verfolgen ist bis heute die legitimatorische Grundlage für politisches und wirtschaftliches Handeln – des Staates und des Individuums. Das Interesse ist der Euphemismus und das Gerüst, ohne das unser kapitalistisches System – mit seinen all Interessensverbänden und Interessensgruppen – nicht funktionieren könnte.
Der brilliante Soziologe und Volkswirt Albert Otto Hirschman, der aufgrund seiner jüdischen Herkunft während des Nationalsozialismus aus Deutschland fliehen musste und heute in den USA lebt, hatte 1989 ein Werk mit dem Titel Entwicklung, Markt und Moral. Abweichende Betrachtungen vorgelegt. In diesem beschäftigt sich Hirschman in dem Abschnitt Der Begriff des Interesses: Von der Beschönigung zur Tautologie mit der Geschichte und Entwicklung dieses Begriffes.
Hirschmans Beobachtungen sind dabei ein Augenöffner und auch für Fachfremde interessant. Kurz, prägnant und ohne Umschweife skizziert er, wie das Interesse mit großen Teilen der Wirtschaftsgeschichte und der Geschichte der westlichen ökonomischen und politischen Theorien der letzten vier Jahrhunderte in Verbindung steht. Das Interesse oder die Interessen gehören zu den zentralen und umstrittensten Begriffen der Wirtschafts-, Sozial- und Geschichtswissenschaften.
Seit der Begriff gegen Ende des 16. Jahrhunderts in mehreren europäischen Ländern als im wesentlich sinngleiche Ableitung aus dem Lateinischen breite Verwendung fand, steht er für die auf dem Selbsterhaltungstrieb basierenden grundlegenden Kräfte, die das Handeln von Fürsten, Staaten oder Individuen motivieren oder motivieren sollen. Hirschman hebt dabei hervor, dass der Begriff – auf das Individuum bezogen – bisweilen eine so weit gefasste Bedeutung hatte, dass man selbst vom Interesse an Ehre, Ruhm, Selbstachtung und an einem Leben nach dem Tod sprach, während er zu anderen Zeiten auf das Streben nach wirtschaftlichen Vorteil beschränkt blieb. Letztendlich kann das verfolgen eigener Interessen alles menschliche Handeln abdecken; sinnvollerweise wird damit aber ein Stil des Handelns bezeichnet, den man sonst auch rationales oder instrumentelles Handeln nennt.
Zwei wesentliche Elemente sind dabei nach Hirschman für das interessenbestimmte Handeln kennzeichnend: seine “Ichbezogenheit” und die “rationale Berechnung”. Vor allem die “rationale Berechnung” spielte für die Vorstellung eines interessenorientiert handelnden Staat oder Fürsten eine entscheidende Rolle. Mit diesem Begriff wurde der im 16. Jhr. aufstrebenden Wissenschaft von der Staatskunst ermöglicht, die bedeutenden Einsichten Niccolò Machiavellis zu integrieren. Dieser hatte in seinem Buch Der Fürst geradezu versessen jene Aspekte der Politik hervorgehoben, die mit der konventionellen Moral unvereinbar waren. In den von ihm beschriebenen Situationen war der Fürst gut beraten oder gar dazu verpflichtet, sich Grausamkeit, Verlogenheit, Verrat und ähnlichen Untugenden zu bedienen. Letztendlich legte Machiavelli das theoretische Fundament, das die Fürsten abseits von ungezügelten und zerstörerischen Leidenschaften nicht nur disziplinieren, sondern auch ihr zuvor als unmoralisch definiertes Handeln legitimieren und sie von etwaigen Schuldgefühlen freisprechen sollte.
Das Interesse wurde somit zum Euphemismus, zur Verschleierung der Begriffe, die ihm zugrunde lagen. Wie z.B. im Wirtschaftsleben das Interesse zur Beschönigung für “Wucher” wurde, ging es nun in den politischen Wortschatz ein, um all die schockierenden Einsichten Machiavellis zu entschärfen und weiterzuentwickeln. Die Staatsräson war ein weiterer Begriff, der sich – Friedrich Meinecke zufolge – ausdrücklich auf diese praktische Rationalität und ihre Anpreisung bezog. Man hegte tiefe Hoffnungen, dass eine an den Maximen des fürstlichen und nationalen Interesses orientierte Staatskunst eine stabilere politische Ordnung und eine friedlichere Welt zustande bringen würde.
Die frühe Karriere des Interessensbegriffs im Bereich der Staatskunst findet aber auch eine bemerkenswerte und immer noch hochaktuelle Parallele in der Herausbildung gesellschaftlicher Verhaltensregeln, wie Hirschman ebenfalls aufzeigt. Mit den neuen, interessensorientierten Verhaltensregeln wurde der zielstrebige Erwerb materiellen Wohlstands einschließlich aller Aktivitäten, die zu seiner Ansammlung nötig waren, legitimiert und sogar gepriesen. Ähnlich wie Machiavelli den Fürsten neue Horizonte eröffnet hatte, hob Bernard Mandeville zwei Jahrhunderte später eine Reihe von Verboten auf, die bis dahin als moralische Regulative des Erwerbslebens gegolten hatten. Und wiederum präsentierten sich die neue Einsicht über Zusammenhänge von menschlichem Handeln und sozialer Ordnung als aufregendes, schockierendes Paradox. Wie vor ihm Machiavelli, so führte jetzt Mandeville seine These von der förderlichen Wirkung des Luxus auf die allgemeine Wohlfahrt in einer geradezu als Skandal aufgemachten Weise vor. So war unter anderem seine Bienenfabel eine der großen Polemiken gegen den damaligen Zeitgeist. Mandevilles These war, das private Laster nicht verdammenswert seien, sondern sozialen Nutzen brächten. Neid, Eitelkeit und Verschwendung – und damit der Konsum von Luxusgütern – führe zu zusätzlicher Nachfrage und Wohlstand.
Die Semantik Mandevilles Entdeckung wurde ebenso modifiziert: Euphemistisch benannte man in Interesse um, was bisher “Habgier” und “Verlangen nach irdischen Gütern” geheißen hatte, das Interesse wurde ausdrücklich mit Gaunerei und unersättlicher Habgier gleichgesetzt. Und wenig später schon tat Adam Smith das für Mandeville, was derselbige für Machiavelli getan hatte. Seine Lehre von der Unsichtbaren Hand, derzufolge es dann um die allgemeine Wohlfahrt bestellt sei, wenn sich nur jeder um seine privaten Interessen kümmere, legitimierte das ausschließliche Engagement der Bürger für ihre eigenen Angelegenheiten und befreite damit viele Engländer, die während des 18. Jahrhunderts in Handel und Industrie tätig waren, von allen Schuldgefühlen, die sie aufgrund des ihnen anerzogenen bürgerlich-humanistischen Sittenkodex, der sie dazu anhielt, direkt dem öffentlichen Wohle zu dienen, vielleicht hätten hegen können. Nun gab man ihnen die Gewissheit, dass sie diesem Kodex durch die Verfolgung privater Zwecke auch auf indirektem Wege gerecht werden konnten, wie Hirschman bemerkt.
Adam Smith begnügte sich nicht etwa damit, die Verfolgung privater Vorteile gutzuheißen. Er nahm gewissermaßen Milton Friedmans Ablehnung solcher Körperschaften vorweg, die Stiftungen für wohltätige und gemeinnützige Zwecke unterhalten, indem er das öffentliche Engagement von Bürgern verurteilte und damit bereits eine Grundlage für den Neoliberalismus Friedmans legte. Auf diese Weise verlieh die Aufwertung des Interesses den privaten Aktivitäten von Handel und Gewerbe, die bisher nur in geringem Ansehen gestanden hatten, auch die Legitimität und Anerkennung. Das Loblied auf das Interesse musste zwangsläufig die gesellschaftliche Wertschätzung jener sozialen Gruppen erhöhen, die Hauptsächlich mit Handel und Industrie zu tun hatten. Für Hirschman war es zudem bezeichnend, dass das Verb to meddle (sich einmischen) erst im Laufe des 18. Jahrhunderts seine heutige, abwertende Bedeutung erhalten hat. Und das nicht umsonst, hielt man doch eine Welt, in der die Menschen nur noch ihre Privatinteressen verfolgen, für wesentlich kalkulierbarer und deshalb auch besser regierbar als eine solche, in der die Bürger sich auf verschiedenen Wege öffentlich einmischen, also partizipieren wollen. Der Begriff des Tittytainment wurde im Geiste bereits hier gelegt.
Einige der “Erfinder” der politischen Institutionen Amerikas, so James Madison und Alexander Hamilton, legten besonderen Wert auf Stabilität und politische Ruhe, die sie für charakteristische Merkmale eines Landes hielten, dessen Bürger zielstrebig ihre materiellen Interessen verfolgten. Demzufolge genoss der Interessensbegriff zur Zeit der Gründung der Vereinigten Staaten ein enormes Prestige. Folgerichtig kehrte die pluralistische Schule der amerikanischen Politikwissenschaften zu der Smithschen Vorstellung von einer Harmonie zwischen Eigeninteressen und Allgemeininteresse zurück, indem sie Smiths ökonomische Individuen durch konkurrierende politische “Interessengruppen” ersetzte.
Mit der Lektüre Hirschmans herausragender Bestandsaufnahme stellt sich gleichzeitig die Frage für den Rezipienten, ob nicht genau diese Entwicklung – die Instrumentalisierung des Interesses – eine Kultur der Ausbeutung und des Materialismus nicht nur gefördert, sondern auch als eine bis heute fest verankerte, moralisch legitime Normalität etabliert hat. Begriffe wie Gewinnmaximierung – ein Synonym für ökonomischen Erfolg – sind in unserer Gegenwartsgesellschaft positiv determiniert, ja werden als Werte gefördert. Deutlich aber wird spätestens nach der Finanzkrise, dass die normative Etablierung des Interessensbegriffes – in unserem Wertesystem eineseits, als Grundlage politischen und wirtschaftlichen Handelns anderseits – im Widerspruch zu einer sozialen, menschenwürdigen Ordnung zu stehen scheint. So lässt sich theoretisch jede Menschenrechtsverletzung zum Beispiel mit dem Interesse des Staates an seiner Sicherheit, die Ausbeutung der Lohnabhängigen mit den ökonomischen Interessen des Unternehmens im Zuge des Standortwettbewerbes, die des Spekulanten ebenso mit dem Interesse an Gewinnmaximierung rechtfertigen.
Anders ausgedrückt: Ist ein politisches System, das auf den pluralistischen Input von diversen Partikularinteressen setzt wie die USA, oder auf den Segen des Interessensausgleich durch ein Verbändesystem wie Deutschland, imstande, die Verheißungen einer gerechten Gesellschaft überhaupt noch zu erfüllen? Die Gegenwärtigen postdemokratischen Tendenzen, also die Auflösung von gesellschaftlichen Strukturen, die wachsende soziale Ungleichheit und die zunehmende Korrumpierung der politischen Institutionen im Sinne von Konzerninteressen lassen Skepsis aufkommen. Das sich das liberal-libertäre Ideal einer Gesellschaft, deren Mitglieder sich nur noch um ihre Privatinteressen kümmern, nicht mit einer demokratischen Gesellschaftsordnung vereinbaren lässt, beantwortet Hirschman auch explizit: “Doch zu einem völligen Rückzug in das Private kommt es – wie schon Benjamin Constant scharfsinnig beobachtete – nur unter autoritären Regimen, denn die Kunst des tyrannischen Regierens besteht darin, die Bürger voneinander getrennt zu halten. (…) Das würde zu einer etwas bestürzenden Folgerung führen. Jenes gepriesene Ideal der Berechenbarkeit, die angebliche Idylle, in der die Bürger vollends privatisiert sind und sich ausschließlich ihren Erwerbsinteressen widmen, wodurch sie dann indirekt, aber niemals direkt dem öffentlichen Interesse dienen, wird nur unter politischen Bedingungen verwirklicht, die ein Alptraum sind!“
Diese Diagnose ist nur konsequent, wenn man sich klar macht, dass ein demokratisches System nicht von privaten, sondern öffentlichen Engagement zehren muss; der politische Staatsbürger ist die Basis jeder lebendigen Demokratie. Daher ist die Aufmerksamkeit für solche Handlungsweisen, die nicht strikt von herkömmlichen Eigennutz motiviert sind, sehr zu begrüßen. Denn gewiss und voraussagbar ist – und da liegt Hirschman auf einer Linie mit Keynes – allein die Unvoraussagbarkeit allen menschlichen Handelns und die Vergeblichkeit des Versuches, dieses auf ein einziges Motiv, wie in diesem Falle das Interesse zurückzuführen. Hirschmans Buch bedarf dringend einer neuen Auflage!