Ausblick
Der Liberalismus scheitert an sich selbst

Die liberalen Interpretationen des US-Wahlergebnisses als singulärer Unfall innerhalb des Systems schlagen fehl. Trump ist die logische Konsequenz des Systems

Der Liberalismus brachte uns ein System der Ideale von Freiheit, Pluralismus, Schutz vor staatlichen Eingriffen und Gleichbehandlung. Doch diese Idee ist dabei, sich durch ihre immanenten Konstruktionsfehler ins Gegenteil zu verkehren. Trump ist hierfür das bisher eindeutigste Symptom, speziell in dem Land des Liberalismus – und auch international als Speerspitze einer neuen autoritären Internationale.

Die staatliche Gleichbehandlung scheint egalitär gerecht zu sein. Doch eine gleiche Behandlung aller setzt auch eine faktische Gleichheit auf vorrechtlicher Ebene voraus. Ansonsten wird Ungleiches gleich behandelt, was im Ergebnis zu Diskriminierung führt. Armen wie Reichen wird gleichermaßen verboten, nachts unter der Brücke zu hausen, um es zynisch auszudrücken. Von Gleichheit kann in den USA keine Rede sein, weshalb der Liberalismus als Aphorisierung des Bestehenden und Nivellierung von Defiziten wirkt. Der Staat ignoriert unterschiedliche Lebensbedingungen und ist blind gegenüber gesellschaftlichen Dynamiken der Diskriminierung.

So hat faktisch in einer solchen Gesellschaft nur Rechte und Möglichkeiten der Selbstverwirklichung, wer Teil der konkurrenzfähigen, stärkeren Gruppe, der bürgerlichen Gesellschaft, ist. Die Gesetze gelten zwar egalitär, jedoch sehen sie so von den Vorbedingungen zur Inanspruchnahme dieser Rechte ab und wirken somit elitär.

Jene Menschen, die Donald Trump vor allem wählten – die sogenannten blue collar worker oder auch der white trash –, nehmen dies diffus wahr und fordern an der Wahlurne ihre Rechte an gleicher Teilhabe ein. Donald Trump steht zumindest verbal für die Emanzipation der Abgehängten, wie er nach seinem Wahlsieg noch einmal betonte:

Your voice, your desires, your hopes and aspirations, will never again fall on deaf ears – the forgotten men and women will not be forgotten anymore.

Unabhängig von seiner tatsächlichen Arbeit als Präsident hat er es jetzt schon geschafft, diese Gruppe durch den Schwenk der Aufmerksamkeit aus der Vergessenheit zu holen.

Der Wirtschaftsliberalismus ist Teil des Problems. Ein Rückzug des Staates aus der Wirtschaft über Deregulierung, Privatisierung und Liberalisierung führt zu einer Verselbstständigung der kapitalistischen Dynamiken. Die marktkonforme Demokratie verkennt, dass die Dynamiken des Kapitalismus keinesfalls mit den Interessen der Gemeinschaft übereinstimmen. Kapitalismus und Demokratie sind nicht obligatorisch sich ergänzende Teile einer Funktionslogik, sondern in großen Teilen gegensätzlich. Der neoliberale Staat nimmt den Systemzwang der steigenden Ungleichheit im Kapitalismus hin.

Auch gewährleistet der Staat keine Leistungsgerechtigkeit, sondern lässt den Markt entlohnen. Nicht nach einem Maß an vollbrachter Leistung, sondern nach den kapitalistischen Zwängen der Verfügbarkeit, der Logik von Angebot und Nachfrage. Besonders die Unterschicht ist diesen Dynamiken durch die fehlende Möglichkeit des Aufbaus finanzieller Rücklagen ausgesetzt. Diese Schicht ist es auch, auf deren Basis ihrer Arbeit die liberale Oberschicht leben kann. Die Ausbeutung des Mehrwerts ist Grundlage ihrer Existenz und ihres Lebensstandards.

Die Frage ist nun, warum diese im Grunde genommen emanzipatorische Bewegung der Subalternen statt in einer sozialistischen in einer faschistoiden Bewegung mündet.

Zum einen sind die Subalternen zumeist durch eine große Bildungsferne stark von dem öffentlichen Diskurs abhängig. Gleichzeitig haben sie gegenüber diesem ein geringes Reflexionsvermögen. Der öffentliche Diskurs ist vor allem liberal geprägt und die Alternative hierzu ist zumeist bestimmt durch gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Nationalismus. Ursächlich hierfür ist besonders die antisozialistische Grundtendenz der Öffentlichkeit, welche linke Alternativen versperrt. Zudem sehen viele Vertreter der Unterschicht in linken Bewegungen Teile des Establishments aufgrund der genuin liberalen Ausrichtung und des Engagements der Linken gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Durch das linke Defizit äußerst sich Frust auf der anderen Seite des politischen Spektrums.

In der Unterschicht halten sich Vorurteile durch große Bildungsferne und eine antiliberale Grundrichtung weiter tief verwurzelt. Das Engagement der liberalen Oberschicht gegen solche Vorurteile hat zur Folge, dass sich die Ablehnung dieser Gruppe durch die Subalternen auch auf die liberalen Werte der Oberschicht überträgt. Darüber hinaus ist die Unterschicht durch den Glauben an Meritokratie – das heißt, die Verbindung von finanziellem und sozialen Status, die Möglichkeit des Aufstiegs und an die Leistungsgerechtigkeit – dominiert. Ursächlich hierfür sind die genannte Diskursabhängigkeit sowie die Folge der alltäglichen Konfrontation mit der Begrenztheit der eigenen finanziellen Freiheit. Dies fördert eine Sehnsucht nach Reichtum und eine Sympathie mit Menschen, die „es geschafft haben“ Wohlstand zu erreichen. Sogenannte Selfmade-Millionäre werden zu Vorbildern und dienen als Bestätigung der Überzeugung von egalitärer Leistungsgerechtigkeit und Aufstiegsmöglichkeit.

Es wird ein eigenes Narrativ geschaffen, dass sich wechselseitig mit dem Aufstieg der neuen autoritären Internationalen bedingt.

Nun entsteht aber ein Konflikt zwischen ihrer subjektiven meritokratischen Einstellung und ihrer objektiven Situation der finanziellen Armut. Gelöst wird dieser Widerspruch durch Schuldzuweisungen entlang nationalistischer und rassistischer Kategorien. Besonders die Dynamik der Globalisierung gibt dem Vorschub. Außerdem ermöglicht gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, den eigenen relationalen sozialen Aufstieg, indem Andere diskriminiert und somit unter sich degradiert werden. Es wird ein eigenes Narrativ geschaffen, dass sich wechselseitig mit dem Aufstieg der neuen autoritären Internationalen bedingt.

Donald Trump gelingt es so, sich leicht als Vertreter des kleinen Mannes darzustellen, indem er diese Vorurteile bedient und sich so bewusst von dem liberalen Establishment abgrenzt. Außerdem ist er in seinem Auftritt als scheinbarer Selfmade-Millionär eine wohlige Bestätigung der Überzeugung derer, die an die Meritokratie glauben.

Der Liberalismus hat eine immanente soziale Dynamik – und zwar der Auflösung des Sozialen. Der Schutz des Individuums vor Eingriffen Anderer ist das höchstes Ideal. Der Beginn der Sphäre des Anderen ist die Begrenzung der Eigenen und nicht die soziale Verwirklichung als eines Jeden in seinem Nächsten. Die Individualisierung wird gefördert, zumal durch steigende Ungleichheit eine Inkompatibilität von Lebensverhältnissen entsteht. Sie führt schließlich zur Isolation. Besonders betroffen sind Menschen, die von der sozialen Interaktion des Arbeitsplatzes ausgeschlossen sind und so zudem einen geringen sozialen Status genießen.

Die liberale Isolation führt zu einer Sehnsucht nach einem starken, verbindenden Kollektiv. Diese findet sich aus isolierten Menschen über soziale Medien und ist im Ergebnis ein autoritäres, faschistisches Kollektiv. Die sozial verbindende Dynamik des Faschismus funktioniert auch heutzutage, wofür Donald Trump die zeitgemäße Verkörperung eines Neofaschismus ist.

Zudem äußerst sich der Liberalismus in der Vernachlässigung des Gemeinwohls, aufgerieben zwischen egoistischen Interessen. So entstehen von staatlicher Seite Defizite der politischen Bildung in Schulen und in der medialen Öffentlichkeit, was generell einen Populismus begünstigt. Auf Seite der Bevölkerung steht das individualistische Streben einem politischen Engagement breiter Bevölkerungsgruppen (gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit) entgegen. Die Konzentration auf Selbsterhaltung und Wohlstandssteigerung führt zu einer Depolitisierung und politischen Verarmung.

Das entscheidende Zünglein an der Waage zur Wahl Donald Trumps war die Globalisierung als Teil der liberalen Idee und damit einhergehend ihr fehlender politischer Gestaltungswille. Nationale Ungleichheiten werden verstärkt durch eine Transformation des Ausbeutungsmechanismus von nationaler auf internationale Ebene. Zum einen steigt der Wohlstand der Oberen durch effizientere Ausbeutung, zum anderen verlieren die Unteren dabei ihren Arbeitsplatz an das Ausland. Dazu entstehen reaktionäre Reflexe wie bei jeder Idee des Internationalismus.

Die Ungleichheit rächt sich an der Wahlurne, an der die Masse der Abgehängten über die demokratische Logik der radikale-arithmetischen Gleichheit (one man one vote) ihre Macht ausspielt. Das Ergebnis hiervon kennen wir.

Schlussendlich bleibt die Erkenntnis, dass das, was Hillary Clinton verkörpert, einen Donald Trump hervorruft. Der Liberalismus scheitert an sich selbst und droht nun international in rechtspopulistische bis faschistische Bewegungen umzuschlagen. May God help us.

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9 Kommentare zu "Ausblick
Der Liberalismus scheitert an sich selbst"

  1. Pirandîl sagt:

    Die Frage, warum marginalisiert Arbeiter nicht ihre “natürlichen Verbündeten” (die “Linken”) sondern die Henker der Arbeiterbewegung (die Faschisten) wählen, ist keineswegs neu. Gebe es Gott, dass die Geschichte sich nicht wiederholt. Ob es uns gefällt oder nicht, wir leben in interessanten Zeiten …

    • Karsten Annmann sagt:

      Die Linken haben es leider u.a. LePen überlassen, die Migrationspolitik von Merkel als möglicherweise interessengeleitet in Richtung “wollen nur billige Arbeitssklaven importieren” zu kritisieren.

      Bevor aber der kleine Mann glauben konnte, Frau Merkel wolle ihm mit ihrer Politik etwas gutes tun, musste er das von LePen selbst denken, insbesondere wenn er schon recht weit unten und zb von erzwungener Leiharbeit bedroht ist.

      Die Linke verliert deswegen natürliche verbündete Wähler, weil sie denen keine Stimme mehr geben will. Die Masseneinwanderung von zumeist Unqualifizierten ist ganz einfach nicht im Sinne des kleinen Mannes, sondern es ist Massenkonkurrenz, für die er sich bestenfalls moralisch erhaben fühlen darf, wovon aber auch die Miete nicht gezahlt werden kann.

      Zu meiner Behauptung mit LePen setze ich jetzt keinen Link, man suche einfach unter “LePen Migration Arbeitssklaven”., da kann man das publizierende Organ selbst wählen.

      Und dasselbe ist es mit der Auflösung/Überwindung des Nationalstaates und seiner Grenzen. Das dient den kleinen Leuten ganz einfach nicht, ja es setzt sie dem globalen Kapitalismus noch viel stärker aus und das ist den meisten kleinen Männern irgendwie klar.

      Die Linke macht einfach falsche Angebote und deswegen wählt die keiner. Zumindest diesen letzten Satz kann wohl keiner bestreiten.

  2. QuestionMark sagt:

    Oh je, die Antifa schreibt mal wieder Artikelchen und bleibt damit (wie immer) im Naiven stecken.

    Die bisherige Politik sei also liberal gewesen. Die Gesetze gelten/galten angeblich für alle in gleicher Weise. So ist das also in den letzten Jahren gewesen. Angeblich. Aha. Wer es glaubt, der wird wohl selig werden. Alle anderen haben das wohl jenseits dieser postfaktischen Ideenwelten anders erlebt. Der Volksmund hat schlauere Sprüche zu dem weiter oben geschriebenen. Einer davon geht so: “Die einen sind gleich und die anderen sind eben gleicher”. So viel zum Thema Egalität.

    Trump ist also jetzt schon laut Autor ein Faschist? Da würde ich mal nicht so nassforsch urteilen. Ich bitte zumindest darum, erst mal ein paar Augenblicke abzuwarten bevor man ein solches Urteil fällt. Alles andere ist wohl eher vorzeitige Antifa-Ejakulation. Auch wenn diese “Neofaschisten-Fantasie” einen Teil des linken Spektrums in überschwengliche Geilheit versetzen mag, so hat doch der Totalitarismus (Totalüberwachung, Gleichschaltung der Meinungen, Wiedereinführung der Zensur, Verfassungsbruch als Kavaliersdelikt, Nutzung von “Reichstagbrandereignissen” um den Verfassungsstaat auszuhebeln etc.) lange vor Trump im Westen sein Stelldichein gegeben.
    Darüber könnte man mal nachdenken, wenn man wieder “runtergekommen” ist.

  3. Levan sagt:

    Das, wofür Clintons, Merkels, Obamas und desgleichen stehen, ist kein Liberalismus.
    Das ist eine Oligarchie.
    Das ist weder freie Markt (so, wie Milton Friedman sich das vorgestellt hat) noch eine freie Gesellschaft.
    Daher ist der Begrif Liberalismus im falschen Kontext benutzt worden.
    Hier übrigens die echten Liberalen: https://www.lewrockwell.com/
    und die Wirtschaftsliberalen: https://mises.org/

    Alex Jones nennt die ganze kriminelle Bande “Linken”, “Sozialisten” etc.
    Die US und EU Regierungen haben gar nichts mit einer Ideologie zu tun. Das sind einfach Verbrecher, die an die Macht gekommen sind.
    Übrigens, deswegen ist es auch schwer heute links vom rechts zu unterscheiden.

  4. EuroTanic sagt:

    Es gibt keinen freiheitlichen Staat. Zwischen 55 Schampoosorten von 4 Konzernen zu wählen ist kein Liberalismus.

    • Doch, genau das ist zumindest nach Michea der Liberalismus in letzter Konsequenz:
      „Anders gesagt versteht sich die konsequente liberale Gesellschaft als eine friedliche Ansammlung abstrakter Individuen, die – sofern sie die Gesetze einhalten – offenbar nichts anderes (weder Sprache, Kultur oder Geschichte) gemeinsam haben als ihren Wunsch, sich als Produzent und/oder Konsument am Wachstum zu beteiligen.“

      • QuestionMark sagt:

        Das Problem mit dem Begriff “Liberalismus” ist wohl, dass jeder etwas anderes darunter versteht. Marx war (in gewisser Weise) auch ein “Liberaler” wenn er sagt:
        “Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!”

        Freiheit setzt aber eben auch den Zugriff auf Produktionsmittel voraus. Sonst ist man in einem Abhängigkeitsverhältnis. Und damit zwangsläufig in der Unterdrückung angelangt. Marx war sich dessen bewusst. Im Gegensatz zun den völlig “verblendeten etablierten Liberalen”.

        Und dann wäre da noch der “kleine Widerspruch”: Die Freiheit des einen steht der Freiheit des anderen etwas im Wege.

        Also: Die modernen Diskussionen über den Liberalismus helfen nicht weiter. Wer die Realität des Klassenkampfes nicht kapiert, dem werden die gesellschaftlichen Entwicklungen ewig ein Rätsel bleiben.

  5. Alberto sagt:

    Das Problem sind die immer mehr angepaßten Leitmedien, die ihre Aufgabe zu informieren zunehmend der machtererhaltenden Interpretation von Politikergeschwätz opfern die ihrerseits von Lobbygruppen “getunt” werden.
    Hinzu kommt, dass nach meiner Erfahrung die Mehrheit der Menschen gerne Probleme anderen, sprich Politikern, oder dem der sich zuerst meldet überläßt und vor allem, dass leider sehr viele, wären sie in der entsprechenden Position, nicht anders handeln würden als die sogenannten “Machteliten”.
    Weiter ist die Linke meistens derart zerstritten, dass in der Bevölkerung keine Vertrauensbasis entstehen kann.
    Der voraussehbar weiter eskalierende Neoliberalismus, denn der Mensch ist nicht lernfähig, wird zu weiteren “Trumps” in der Welt führen, auch wenn das keine Lösung sein wird.
    Erst wenn die Mehrheit selbst bereit ist Verantwortung zu übernehmen könnte sich etwas ändern.
    Generell ist die Lektüre von “Taking the risk out of democracy” zu empfehlen, da wird schnell klar wo wir stehen und wohin wir auch mit einer “Demokratie” gehen werden.
    Die Macht hat das Kapital und sie werden sich diese nicht nehmen lassen – notfalls hilft ein Krieg.

  6. Hans Tigertaler sagt:

    Nur der Klassenfeind ist kein Rassist

    Widerstand gegen existenzbedrohende Wirtschaftskonkurrenz, soweit »gruppenbezogen«, gilt auch diesem Autor als Rassismus.

    Er ist das unschuldige Opfer des systematischen Forschungsniedergangs durch die unqualifizierte Tätigkeit eines plumpem, interessenbezogenen Akademismus geworden, der das Beschweigen allgegenwärtiger und vernichtender neoliberaler Marktkonkurrenz mit der gefürchteten Abscheulichkeit des Ressentimentverdachts erzwingen will.

    Rassismus als »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit», zu definieren, beweist die Unfähigkeit des Bürgertums, erneut seiner historischen Aufgabe der Aufklärung nachzukommen.

    Unabhängig davon, dass den Rassisten solche kleinteilige Differenzierung nach Gruppen immer fremd war – denn sie haben es gleich auf ganze Völker abgesehen – erwächst Rassismus, als Kategorie des Ressentiments, umgekehrt gerade nicht aus der komplizierten Gegnerschaft gegen die bloße Identität solcher Kollektive, sondern stets aus der oktroyierten Zuschreibung genuiner, prinzipiell invarianter, im engeren Sinne biologischer und charakterlicher Eigenschaften, denen eben kein Mitglied dieses Kollektivs – und erst das gilt ja als Rassismus – irgend in seinem Leben entkommen kann. Rassismus ist ein hartnäckiges Überbleibsel vorzivilisatorischen, magischen Denkens.

    Gruppenbezogene Feindlichkeit jedoch gegen Kollektive wegen ihrer Identität oder ihrer politischen Macht (z. B. gegen den Adel, den Klerus, die Faschisten) war in Wahrheit häufig genug absolute Voraussetzung sowie Ferment und Ergebnis des Fortschritts, z.B. der Aufklärung, welche die Schrecken magischen Denkens einst von uns allen in Europa genommen haben. Die summarische negative Adressierung von Gruppen prinzipiell als rassistischen Angriff einzustufen, beweist ziemlich schlagend die intellektuelle und moralische Verkommenheit der inzwischen in geistige Vulgarität abgetauchten, die Folgen ihrer Versäumnisse masochistisch goutierenden scheinlinken Ressentimentjäger.

    Es ist der Chiliasmus bürgerlicher Herrschaft, der offenbar nicht verstanden wird. Der wahre Extremist ist nämlich die Bourgeoisie selbst: Entweder sie errichtet Menschenschlachthäuser oder sie bewinselt unterschiedslos den ganzen Globus, es muss nur stets ein Geschäft sein.

    Der empfindsame Einsatz ihrer scheinlinken Unterstützer für das entferntere Elend der Flüchtlinge und Migranten ist wahrscheinlich auch dem Stolz auf das Alleinstellungsmerkmal bürgerlicher Gewolltheit geschuldet, das sich wie gewohnt polyglott an der natürlichen Vorsicht und dem Misstrauen der kleinen Leute als Ungebildete und Verlierer weidet.

    Denn in der kapitalistischen Welt gilt nur noch ein einziges Hauptprogramm: Das vom Kapital im Gefolge seiner Metzeleien produzierte billigste Menschenmaterial hat umstandslos und jederzeit in großer Menge und für den beliebigsten Zweck gerade an den hochagglomerierten Orten des Globus bereitzustehen. Freizügigkeit als erpresster menschlicher Wanderungszwang, also Unfreiheit, steht nunmehr unverhüllt als höchstes Freiheitsziel moralisch sogar gegen geschriebene Gesetze und vor allen Dingen gegen die fundamentale Bedeutung der gleichmäßigen Entwicklung der Länder und Regionen, die wichtigste Voraussetzung friedlicher Entwicklung. In der Konkurrenzgesellschaft sollen die billigeren Menschen aus sogar entfernteren Regionen jederzeit die Wölfe der je hiesigen werden können. Kein Schutz mehr, nirgends.

    Die Inhaber des aus den deutschen Exportüberschüssen, also aus der exorbitanten Verschuldung anderer Länder, stammenden vagabundierenden Kapitals entdecken die Humanität als Rettung aus der drohenden Sackgasse der gescheiterten Beggar-my-Neighbour-Politik, und naturgemäß werden die verlangten exorbitanten Gewinne beim Einsatz für das Überleben der Stärksten entfernter Länder den hiesig Schwächsten (nicht bloß, wenn sie keine Rassisten sein wollen) aufgeladen. So verliert die naive und störrische Gesetzestreue des Proletariats wieder und wieder und ausgerechnet vor der ausgerufenen Menschlichkeit des kriegführenden Kapitals jede moralische Rechtfertigung. Denn das Kapital setzt sich stets ins Recht und das Recht ins Unrecht.

    Illegale Einwanderung im Einzelfall zu verteidigen, beweist Kenntnis und Menschlichkeit; sie allgemein zu verteidigen, Ignoranz und Ausbeutung. Der Mensch ist nur das mechanische Anhängsel seines Passes, sagte Bertolt Brecht. Kein Mensch ist illegal, sagte Dschingis Khan. Den Widerspruch zwischen Mensch und Horde aufzulösen, waren die Kommunisten angetreten. Doch es ist gelungen, sie zu diskreditieren. Und so glauben heute unsere Enragés der Antifa: Nur noch Dschingis Khan wird was ändern.

    Während vor unserer Nase in den Städten Elende und Obdachlose auf offener Straße und unter zugigen Brücken unbeachtet vor sich hin verrecken – nicht entfernt sollten sich je seit dem letzten Krieg die Bürger an solche entsetzliche Grausamkeit der verantwortlichen Politik gewöhnen – bejammert die bürgerliche Scheinlinke lieber die ausgesuchteste Ausstülpung bourgeoiser Lebensart als verfolgte Minderheit, der zuerst und sofort ihre humanen Widmungen zu gelten hätten.

    Ihre dem Volk gegenüber fortwährend geäußerte Verachtung mit widerlichen Unverschämtheiten wie Abgehängte, Verlierer, Überflüssige, Blue Collar, White Trash verrät die bürgerliche Scheinlinke als unbarmherzige Gegnerin der Arbeiterschaft, ihr Stolzieren im linken Spektrum als betrügerisches Kostüm des altbekannten Klassenfeinds.

    Der neoliberale Rassismusvorwurf ist das obszönste Präservativ des Klassenkampfs.

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