Über die Physik der Atomkraft

Gespräch mit dem Physiker Janosch Deeg (Teil 3)

Kernkraftwerk Lingen, Quelle: Bundesarchiv, B 145 Bild-F029580-0006 / Gräfingholt, Detlef / CC-BY-SAFlorian Hauschild spricht für le bohémien mit Janosch Deeg über die Atomkraft. Im dritten und letzten Teil des Interviews vermittelt der Physiker einen Überblick über Risiken und Gefahren der Kernkraft, darüber was in Fukushima falsch gemacht wurde, und spricht eine Handlungsempfehlung für Politik und Gesellschaft aus.

le bohémien: Herr Deeg, bleiben wir mal bei der Nachzerfallswärme. Können Sie uns mal erklären was passiert, wenn die Kühlung ausfällt, die Brennstäbe aber weiterhin Wärme produzieren? Denn genau das ist ja das Problem in Fukushima, wenn ich das richtig verstanden habe?

Deeg: Ja das ist richtig. Die Aufrechterhaltung der Kühlung im Notfall ist eigentlich ein essentieller Bestandteil eines Kernkraftwerks. In Fukushima hat man fahrlässigerweise nicht damit gerechnet, dass die Dieselmotoren, die im Notfall die Kühlung übernehmen, auch ausfallen können, wie es eben durch die Tsunami-Flutwelle geschehen ist. Die Erderschütterungen haben sie wohl noch überstanden, aber wenn Dieselmotoren mit Wasser voll laufen, geben sie verständlicherweise schnell den Geist auf. Diese Nachlässigkeit wird den Konstrukteuren auch zu Recht vorgeworfen. Die Akkus, die eigentlich nur den reibungslosen Übergang von Strom zu Dieselmotoren gewährleisten sollten, waren somit die einzige Möglichkeit zu kühlen, aber eben nur für eine kurze Zeit.

le bohémien: Also was ist dann passiert?

Die Brennstäbe erhitzten sich weiter, das Wasser verdampfte und es entsteht ein unglaublicher Druck im Inneren des Reaktors. Um diesem Druck entgegenzusteuern, haben die Arbeiter dann radioaktiv kontaminierten Wasserdampf in die Umgebung abgelassen um Explosionen zu vermeiden. Das ist aber nicht immer gelungen, es gab ja mehrere Explosionen. Außerdem hindert diese Maßnahme die Brennstäbe nicht daran, sich weiter aufzuheizen. Irgendwann werden sie so heiß, dass die Ummantelung der Brennstäbe schmilzt, die Schutzhülle ist also weg, das ist die sog. Kernschmelze. Wenn mehrere Brennstäbe schmelzen, dann kann sich das flüssige hochradioaktive Material durch den Boden des Reaktors fressen. Außerdem geht mit einer Kernschmelze auch meistens eine Zerstörung der Reaktorhülle mit einher. Radioaktives Material gelangt deswegen unkontrolliert nach draußen, wird mit dem Wind weitertransportiert oder dringt schon direkt am Reaktor ins Grundwasser.

le bohémien: Dass radioaktives Material ausgetreten ist, hätte also nicht verhindert werden können, oder haben die Verantwortlichen falsch gehandelt?

Deeg: Nein, ich denke das kann man so nicht sagen. Wahrscheinlich haben die Arbeiter sogar relativ gut reagiert und noch Schlimmeres verhindert. Das Ablassen von radioaktiv verseuchtem Gas war notwenig, das kleinere Übel sozusagen. Explosionen die die Schutzhülle des  Reaktorgebäudes zerstören können, sind in jedem Fall als deutlich gefährlicher einzustufen. Auch die Kühlung mit Meerwasser war wohl ein notwendiger Schritt, auch wenn man jetzt viel radioaktiv verseuchtes Wasser hat.

le bohémien: Aber dann muss ja bei der Planung, oder sagen wir bei der Konstruktion des AKWs etwas schiefgelaufen sein?

Deeg: Das stimmt. Soweit ich informiert bin, waren die Schutzmauern gegen Tsunami-Wellen ungefähr 6,5 Meter hoch, die Wellen waren aber  7 Meter hoch. Man kann jetzt sagen, das war ein Planungsfehler und hätte man die Risiken besser eingeschätzt, wäre das alles verhindert worden.  Man kann aber auch daraus schließen, dass es schlicht und einfach nicht funktioniert, dass sich die Menschen mit Hilfe von Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen mögliche Risikoszenarien ausrechnen. Das letzte Wort scheinen immer die Naturgewalten zu haben.

le bohémien: Bleiben wir bei Fukushima. Ist denn jetzt eigentlich eine Kernschmelze eingetreten oder nicht?

Deeg: Experten gehen derzeit davon aus, dass es zeitweise zur Kernschmelze in wahrscheinlich mehreren der Reaktoren gekommen ist. Es wurde stark radioaktiv verseuchtes Wasser entdeckt, was darauf hindeutet, dass eben die Brennstäbe geschmolzen sind und sich mit dem Wasser vermischt haben. Außerdem lässt der Umstand der ausgefallenen Kühlung keine andere Schlussfolgerung zu, deswegen: Ja, es gab höchstwahrscheinlich eine Kernschmelze.

le bohémien: Wann kann man das mit Gewissheit sagen?

Deeg: Ich denke, wenn die Reaktoren unter Kontrolle sind und Analysen durchgeführt werden. Es scheint, dass dies momentan mehr oder weniger schon der Fall ist.

le bohémien: Ist das AKW denn unter Kontrolle?

Deeg: Naja, zumindest ist die Notstromversorgung seit einiger Zeit wieder gewährleistet, aber totale Kontrolle ist wahrscheinlich was anderes, da haben Sie vollkommen Recht. Ich kann auch nicht sagen, wann die Schäden am Kühlsystem behoben, bzw. diese wieder voll funktionsfähig sind. Nichtsdestotrotz wird man schon dabei sein, genau zu analysieren und zu überlegen, wie man die restlichen Schäden behebt; immer unter dem Gesichtspunkt, die radioaktive Belastung für Mensch und Umwelt möglichst gering zu halten. Wie lange das dauert und welche Maßnahmen man im Speziellen einleiten wird, kann ich allerdings nicht einschätzen.

Man weiß jetzt aber schon sicher, dass das Kraftwerk aufgegeben wurde, d.h. es wird nie wieder anlaufen. Das Meerwasser, das in die Reaktoren gepumpt wurde, hat wohl so starke Schäden angerichtet, dass ein erneuter Betrieb ausgeschlossen ist.

le bohémien: Was bedeutet der Unfall für die Menschen, die dort nach wie vor arbeiten müssen, wahrscheinlich gezwungenermaßen?

Deeg: Die Arbeiter tragen natürlich Schutzanzüge. Diese helfen auch relativ gut gegen die Alphastrahlung und Betastrahlung, jedoch schirmen sie die hochenergetische Gammastrahlung nur unzureichend ab. Deswegen dürfen sich die Arbeiter auch immer nur für sehr kurze Zeit in wirklich strahlungsverseuchten Bereichen aufhalten. Wie hoch jetzt die Strahlenbelastung im Einzelnen ist, weiß ich nicht. Schlimm wird es allerdings, wenn man direkten Hautkontakt mit radioaktiven Materialien hat. Wie wir aus der Presse erfahren haben, ist das bei einigen Arbeitern leider geschehen. Denen ist radioaktiv verseuchtes Wasser in die Schuhe gelaufen.

le bohémien: Wie wirkt sich das dann aus?

Deeg: Die Strahlung dringt in die oberen Hautschichten ein, zerstört Gewebe und führt dazu, dass die Zellen nicht mehr teilungsfähig sind, man bekommt dann die so genannte Strahlenkrankheit. Je nach Dosis der abbekommenen Strahlung können verschiedene Symptome wie Übelkeit, Haarausfall, Sterilität und viele mehr auftreten. Diese Symptome können sich über Monate ziehen. Im schlimmsten Fall kann dieser Kontakt auch zum Tode führen. Das geschieht meist erst nach einigen Tagen oder Wochen. Überlebt man die Strahlenkrankheit, sind Langzeitschäden wie Krebs oder Erbgutveränderungen wahrscheinlich.

le bohémien: Wir haben in den Medien oft die erschreckenden Bilder gesehen, auf denen Menschen zu sehen sind, die mit Geigerzählern untersucht werden. Fangen die Menschen selbst an zu strahlen, wenn sie “verstrahlt” wurden oder sie die Strahlenkrankheit haben?

Deeg: Nein. Eine Verstrahlung bewirkt kein Strahlen des Verstrahlten. Es ist nach wie vor so, dass nur das radioaktive Material strahlt. Dieses befindet sich in der Kleidung, in den Haaren und auf der Haut der Menschen. Wenn also Menschen strahlen, dann tragen sie in ihrer unmittelbaren Umgebung radioaktive Materialien die strahlen. Man kann sich vorstellen, dass das höchst schädlich ist.

le bohémien: Was sind das denn nun für Materialien? Uran?

Deeg: Nicht unbedingt, in erster Linie sind das Zerfallsprodukte, die während des Spaltprozesses von 235 Uran entstehen; hauptsächlich wurde radioaktives Jod und Cäsium in der Umgebung gefunden. Diese Zerfallsprodukte sind, wie wir ja schon besprochen hatten,  auch wieder radioaktiv, meist aber mit einer deutlich kürzeren Halbwertszeit. Hätten sie eine lange Halbwertszeit, wären sie gar nicht mal so schlimm, weil dann ja pro Zeit weniger zerfallen, deswegen also weniger Strahlung frei werden würde. Diese Materialien sind also kleine tückische Zeitbomben, die irgendwann explodieren, also zerfallen und Strahlung aussenden. Tun sie dies in unmittelbarer Umgebung des menschlichen Körpers oder sogar im Körper, dann richten sie erheblichen Schaden an.

le bohémien: Und wie kommen die Materialien in den Körper?

Deeg. Also entweder befinden sich die Partikel in der Luft und werden eingeatmet, oder sie werden durch den Regen auf die Erdoberfläche zurückgebracht und sickern ins Erdreich und schließlich auch ins Grundwasser. Ein weitere Möglichkeit wäre, dass sie direkt mit dem radioaktiv verseuchten Wasser, welches am Reaktor austritt, ins Grundwasser gespült werden. Deswegen wurde auch von der japanischen Regierung angeordnet, kein Leitungswasser in bestimmten Gebieten zu konsumieren. Auch Gemüse ist dann natürlich kontaminiert, weil dieses das Wasser aus der Erde und somit auch radioaktives Material aufnehmen. Die radioaktiven Partikel bleiben jetzt solange in der Umwelt, bis sie vollständig zerfallen sind. Bis die Belastung wieder unbedenklich gering ist, kann das viele Jahrzehnte dauern, wie man am Fall Tschernobyl sieht.

le bohémien: Wie sieht es mit der Belastung im Meerwasser aus?

Deeg: Bekanntlich wurden ja große Mengen an radioaktiv verseuchtem Wasser ins Meer abgelassen. Natürlich ist das erstmal ganz und gar nicht gut für das Meer und seine Bewohner, vor allem nicht in unmittelbarer Umgebung des AKWs. Das einzig positive ist, dass das Meer so unvorstellbare große Wassermassen beherbergt,  dass das radioaktiv verseuchte Wasser schnell verdünnt wird und sich die radioaktiven Partikel also schnell verteilen. Das hat zur Folge, dass die Strahlenbelastung schnell abnimmt.

Nichtsdestotrotz wird man wohl auf Fisch, der vor der Nordostküste Japans gefangen wird, in nächster Zeit verzichten müssen. Dies ist vor allem für viele Küstenbewohner, die sowieso schon durch die allgemeinen Zerstörungen unglaublich hart getroffen wurden, eine zusätzliche große Belastung, weil eine ihrer Einnahmequellen wegfällt. Und selbstverständlich wird auch das ozeanische Leben Schaden nehmen. In welchem Ausmaß, hängt stark von der Belastung ab, die sich wohl noch nicht so richtig einschätzen lässt.

le bohémien: Ok, ich denke wir können nun ganz gut nachvollziehen, wie radioaktive Partikel, die bei einem solchen Reaktorunglück austreten, Schaden anrichten können. Lassen sie uns vielleicht noch über die Abfallprodukte reden, die bei einem normalen Betrieb eines AKWs entstehen. Stichwort Endlagerung. Was genau ist denn das Problem von dem Abfall?

Deeg: Wie ich ja schon erwähnt hatte, müssen die Brennstäbe irgendwann ausgetauscht werden. Dies passiert dann, wenn nicht mehr genügend von dem gewünschten spaltbaren Nuklid z.B. dem 235Uran vorhanden ist. Nun wissen wir aber, dass die entstandenen Spaltprodukte radioaktiv sind und somit weiterhin strahlen. Deswegen kann man diese alten Brennstäbe nicht einfach mal an der nächsten Straßenecke lagern, sondern man muss sie gut abschirmen, so dass die Strahlung keinen Schaden anrichten kann. Und wir reden hier von sehr großen Mengen, die über Jahrtausende noch strahlen werden. Des weiteren muss man sicherstellen, dass sie so gelagert sind, dass man irgendwie noch Kontrolle hat, also z.B. messen kann wie stark die Strahlung ist. Ein weiterer Punkt ist die Sicherheit vor terroristischen Anschlägen. Bedenklich ist dabei wirklich der große Zeitraum über den wir hier sprechen. Nachfolgende Generationen werden noch lange an das Experiment Atomkraft erinnert werden.

le bohémien: Wenn ich das mal zusammenfassen darf: Es gibt also bei der Atomkraft zwei Punkte die sehr bedenklich sind. Zum einen ist es die Sicherheit zum anderen die Endlagerung. Wieso nutzt man denn die Atomkraft dennoch?

Deeg: Nach der Entdeckung der Atomspaltung wurde zunächst ihr zerstörerisches Potential entdeckt, was zur Entwicklung der Atombombe führte. Die Erkenntnis, dass die Kernspaltung auch zur Energiegewinnung taugt, wurde zunächst gefeiert und sozusagen als Wiedergutmachung betrachtet. Denn es ist nun mal so, dass damals eigentlich ausschließlich Kohle zur Energiegewinnung genutzt wurde. Die Atomkraft erschien da zunächst mal als saubere Alternative, weil sie eben keine Abgase produziert. Natürlich ist da die Strahlung, kann man diese aber abschirmen, ist sie nicht weiter schlimm. Die Abfallprodukte eines Kohlekraftwerks hingegen lassen sich nicht so einfach abschirmen. Mehr und mehr hat man aber erkannt, dass das mit der Strahlung nicht so einfach ist; und vor allem der Aspekt der Sicherheit muss spätestens seit Tschernobyl hinterfragt werden.

le bohémien: Herr Deeg wir wollten ja eigentlich keine politische Fragen stellen, sondern nur Fakten schaffen. Jetzt würde ich aber dennoch gerne zum Schluss eine persönliche Frage an Sie richten.

Deeg: Schießen Sie los!

le bohémien: Würden sie als Naturwissenschaftler sagen, der Atomausstieg, so wie er jetzt auch von Schwarz-Gelb wieder beschleunigt beschlossen wurde, ist der richtige Weg?

Deeg: Also über die politische Vorgehensweise werde ich mich nicht äußern. Ich bin aber der Meinung, dass der Atomausstieg sicher der richtige Weg ist. Man hat nun wieder gesehen, dass man die Risiken nicht unter Kontrolle hat. Sicherheitsstandards werden immer vom Menschen definiert und basieren auf wahrscheinlichen Szenarien. Aber so wie es aussieht, funktioniert diese Vorgehensweise nicht zufriedenstellend. Hätte man keine Alternative, würde ich sagen, gut, versuchen wir höchstmögliche Sicherheit zu gewährleisten. Es ist nun aber so, dass es deutlich sicherere Alternativen gibt.

Darüber hinaus glaube ich, dass Deutschland als technisch sehr weit entwickeltes Land es sich erlauben kann, diesen Schritt zu gehen. Und im Endeffekt würde man von einem frühzeitigen Ausstieg nur profitieren. Vielleicht wird es kurzfristig gesehen teurer, aber langfristig wird sich ein schneller Umstieg auf erneuerbare Energien definitiv vor allem wirtschaftlich positiv auswirken. Diese Form der Energie wird immer mehr gefragt sein. Hat man dann schon entsprechende Technologien, ist das ein unschlagbarer Vorteil für ein Exportland wie Deutschland.

Aber ich würde gerne noch etwas hinzufügen: Es wird immer erwartet, dass die Regierung das regelt, dass Energie möglichst nicht teurer wird, dass es zu keinen Stromausfällen kommt, dass erneuerbare Energien ausgebaut werden usw. Anstatt die Verantwortung abzugeben, oder aber zu verlangen, dass „die da oben“ etwas ändern und am besten schnell und reibungslos, sollte man zuerst mal im eigenen Hof kehren und sich überlegen, was man selbst tun kann, z.B. schlicht Energie sparen. Wenn Jeder 10-20% weniger verbrauchen würde, was gar nicht so utopisch ist, könnten wir wohl schon einige Atomkraftwerke abschalten – sogar ohne Alternativen.

le bohémien: Herr Deeg, wir danken Ihnen für das Interview.

Die ersten beiden Teile des Interviews:

– Über die Physik der Atomkraft (Teil 1)

– Über die Physik der Atomkraft (Teil 2)

Bildquelle: Bundesarchiv, B 145 Bild-F029580-0006 / Gräfingholt, Detlef / CC-BY-SA

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