Regionalismus
Das kommende Europa

Der neue Regionalismus und die Sehnsucht nach einem alternativen europäischen Modell

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Bild: Joanjo Aguar Matoses / flickr / CC BY-NC-SA 2.0

1964, als der erste Präsident der Europäischen Kommission, Walter Hallstein, als Ziel des europäischen Einigungsprojektes »die Überwindung der Nationen und die Organisation eines nachnationalen Europas«[1] und »am Ende eine Verfassung Europas als Netzwerk freier Regionen«[2] formulierte, stieß dieses Konzept noch auf eine relativ geringe Resonanz. Doch inzwischen haben sich die Zeiten geändert.

Die alte, geordnete und stabile Welt, wie sie bis zum Ende des Kalten Krieges Bestand hatte, existiert nicht mehr. Das Fundament des heute noch vorherrschenden politischen Systems – ein Modell des 19. Jahrhunderts zur Organisation von Nationalstaaten – beginnt zu bröckeln. Nach der Auflösung der Sowjetunion, Jugoslawiens und der Tschechoslowakei in den 1990er-Jahren sind jetzt auch in westeuropäischen Staaten Sezessionsbestrebungen auf dem Vormarsch. Die Regionalisten sehen die Abspaltung allerdings nicht als Selbstzweck, sondern lediglich als ultima ratio in ihrem Bestreben nach mehr Selbstbestimmung.

Überall dort, wo der Zentralstaat den Regionen signifikante Zugeständnisse in Richtung echter Autonomie gemacht hat, steht das Ziel eines eigenen Staates für die Mehrheit in der jeweiligen Region aktuell nicht auf der Tagesordnung. Südtirol beispielsweise hat in einem jahrzehntelangen Prozess dem italienischen Staat weitreichende »besondere Formen und Arten der Autonomie«[3] abringen können. In der kanadischen Provinz Québec stimmten beim 1995er-Referendum 49,42 Prozent für die Unabhängigkeit. Inzwischen ist in Québec das Französische einzige offizielle Amtssprache, die Region genießt verfassungsmäßige Sonderrechte und die Québecer werden als »Nation innerhalb eines geeinten Kanadas« anerkannt. Laut Umfragen befürwortet heute nur noch rund ein Drittel der Bevölkerung eine Loslösung von Kanada. Und Belgien mit seinen autonomen Gemeinschaften Flandern und Wallonien – obwohl verfassungsrechtlich ein Bundesstaat – entwickelt sich in der Praxis immer mehr auf eine Konföderation zu.

Von Nordirland im Westen des Kontinents bis Neurussland im Osten der Ukraine durchweht Europa ein Wind der Veränderung. Die Volksabstimmungen 2014 in der Ukraine (Krim, Donezk, Lugansk), in Schottland und Katalonien haben deutlich gemacht, dass auch in Europa Staatsgrenzen nicht unverrückbar sind. In Großbritannien und Spanien hat das Streben der Regionen nach Autonomie eine neue Qualität erreicht. Es geht dort nicht mehr nur um die Identifikation mit der Minderheitensprache, -kultur und -tradition und um das Zugehörigkeitsgefühl zu einem klar umrissenen Territorium. Die Unabhängigkeitsprojekte Schottlands und Kataloniens sind fortschrittlicher Natur, sie sind nicht nationalistisch, sondern proeuropäisch, nicht fremdenfeindlich, sondern treten für eine offene Gesellschaft ein.

Demokratische Revolte

Auch wenn sich die Bevölkerung Schottlands im September 2014 mehrheitlich für den Verbleib im Vereinigten Königreich entschieden hat, war der Ausgang des Referendums dennoch ein großer Sieg für die Regionalisten in Schottland und weit darüber hinaus. Denn es ist zu berücksichtigen, dass die »Yes Scotland«-Kampagne keine geringeren Gegner hatte als den britischen Staat, die Londoner Zentralregierung, den Buckingham-Palast, die überwiegende Mehrheit der Medien, die Unternehmen und das liberale Establishment – unterstützt durch EU und NATO. Während der Kampagne wurde deutlich, dass die Unabhängigkeitsbewegung mehr eine soziale als eine nationale Bewegung ist. Ihr Antriebsmotor ist nicht Nationalismus, sondern der Wunsch nach einer Abkehr vom Neoliberalismus und nach sozialer Gerechtigkeit.

Die meisten Unabhängigkeitsbefürworter wollten und wollen ein anderes Schottland, das sich vom gegenwärtigen Vereinigten Königreich deutlich unterscheidet. Die Vision einer offeneren und sozialeren Gesellschaft stand mit dem Referendum zur Wahl. Und es war ein Sieg der Jüngeren, denn die Generation U40 stimmte mehrheitlich für den Abschied von Großbritannien. Die 45 Prozent für die Eigenstaatlichkeit Schottlands im September 2014 sowie der anschließende Erdrutschsieg der Scottish National Party bei den britischen Unterhauswahlen im Mai 2015 (die SNP gewann 56 der 59 schottischen Wahlkreise) sind eindrucksvolle Beweise für die aufstrebende Kraft des europäischen Regionalismus.

Regionalismus bezeichnet das allgemeine Bestreben einer Region oder eines Gebietes (das sich z. B. durch landschaftliche, historische, ethnische oder andere Kriterien von anderen Gebieten abgrenzen lässt) nach größerer Selbstverantwortung und Autonomie gegenüber der staatlichen Zentralmacht. Regionalistische Bestrebungen werden oft von regionalen (Protest‑)Bewegungen gestützt, deren Ziele von stärkerer Dezentralisierung bis zu separatistischen Aktivitäten (z. B. Korsika, Baskenland) reichen können.[4]

Während Schottlands Zugehörigkeit zu Großbritannien einst mit einem freiwillig geschlossenen Vertrag besiegelt wurde, geht die Zugehörigkeit Kataloniens zu Spanien auf eine kriegerische Annexion zurück. Als die Bourbonen, die bis heute in Madrid regieren, 1714 die traditionelle Selbstverwaltung der Katalanen zerschlugen, wurden alle regionalen Institutionen aufgehoben und der spanische Staat setzte seinen absoluten Herrschaftsanspruch über Katalonien durch. In den letzten Jahren demonstrierten am Jahrestag, dem katalanischen Nationalfeiertag – der Diada –, im Gedenken an die Kapitulation am 11. September 1714 jeweils ein bis zwei Millionen Menschen in Barcelona für das demokratische Recht, über die eigene Zukunft zu entscheiden. In Katalonien, einer Region mit einer ausgeprägten eigenen Identität, steht eine Mehrheit der Bürger hinter der Forderung nach Selbstbestimmung. Bei der gegen den Widerstand der spanischen Zentralregierung am 9. November 2014 abgehaltenen nicht bindenden Befragung stimmten 2,3 Millionen Katalanen für einen eigenen Staat, 1,9 Millionen wollen, dass dieser Staat auch unabhängig sein soll.

Da der spanische Staat Katalonien ein Referendum nach schottischem Vorbild verweigerte, blieb als Ausweg nur, die Regionalwahlen am 27. September 2015 zur Abstimmung über die Unabhängigkeit umzufunktionieren. Die Ja-Fraktion erhielt mit einer absoluten Mehrheit der Sitze im Parlament den Auftrag, Katalonien binnen 18 Monaten in die Unabhängigkeit zu führen. Es handelt sich um nichts weniger als um eine demokratische Revolte für die Freiheit. Auch dieses Ergebnis belegt, dass die Autonomie – und wenn diese innerhalb des Gesamtstaates nicht erreicht werden kann, auch die staatliche Unabhängigkeit – für Millionen Menschen eine Option ist.

Im Falle Schottlands und Kataloniens führen die Gegner der Sezession ins Feld, dass mit einem Austritt aus dem jeweiligen Staatsverband auch das Ausscheiden aus der Europäischen Union verbunden sei. Aber, erstens sieht der EU-Vertrag gar keine Regelungen für solche Fälle vor und zweitens gibt es das Beispiel des Schweizer Kantons Jura. Dieser entstand 1979 durch Abspaltung des nördlichen Teils des Juras vom Kanton Bern. Als Republik und Kanton Jura (République et Canton du Jura) blieb der neue Kanton selbstverständlich Teil der Schweiz, sein Austritt bedeutete nicht auch gleichzeitig das Ausscheiden aus der Eidgenossenschaft. Und andererseits wurde durch den Beitritt der neuen Bundesländer zur BRD auch schonmal ein zuvor unabhängiger Staat in die EU aufgenommen, mit dem keinerlei Aufnahmeverhandlungen geführt wurden und für den noch nicht einmal die Beitrittskriterien galten.

Von den 13 Staaten, die der EU seit 2004 beigetreten sind, erlangten sieben ihre Unabhängigkeit erst nach 1990, aber auch die älteren EU-Mitgliedsstaaten Belgien, Finnland, Griechenland, Irland, Niederlande, Norwegen, Portugal und Schweden verdanken ihre Existenz einer Sezession. Keine davon, mit Ausnahme der norwegischen, war verfassungsgemäß. Nachdem NATO-Staaten 1999 die Unabhängigkeit des Kosovo völkerrechtswidrig herbeigebombt hatten, urteilte der Internationale Gerichtshof, dass die einseitige Unabhängigkeitserklärung der Region durch das Völkerrecht gedeckt sei.

Ob allerdings eine Mitgliedschaft in der heutigen EU ein erstrebenswertes Ziel ist, wäre eine eigene Analyse wert. So lehnt beispielsweise die antikapitalistische CUP (Candidatura d’Unitat Popular), eine entschiedene Unabhängigkeitsbefürworterin, die Mitgliedschaft eines unabhängigen Kataloniens in der Europäischen Union, die sie in ihrer jetzigen Form als »antidemokratischen Raum« kritisiert, ab.

Terra Siculorum

Auch in den rumänischen Ländern machen seit Jahren Autonomiebestrebungen von Minderheitengruppen auf sich aufmerksam. In der Republik Moldau kam es bereits 1988/89 zu Abspaltungstendenzen der Gagausen, einem Turkvolk im Süden des Landes. Nachdem sie 1990 eine unabhängige Republik ausgerufen hatten, stand der Konflikt kurz vor einer militärischen Eskalation. Erst als die moldauische Regierung einem Autonomiestatus zugestimmt hatte, verzichteten die Gagausen auf die vollständige Unabhängigkeit. 1994 erhielt die Region den Status einer Autonomen territorialen Einheit mit umfangreichen Sonderrechten. Gagausien (Gagauz Yeri) verfügt über eine eigene Regierung, eine eigene Polizei und drei Amtssprachen: Gagausisch, Rumänisch und Russisch.

Anders verlief die Entwicklung in Transnistrien. Die Region, die sich entlang des östlichen Ufers des Flusses Dnjestr erstreckt – sie umfasst in etwa das Gebiet der ehemaligen Moldauischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik (ohne die östlichen Rajone Balta und Kotowsk), die zwischen 1924 und 1940 im Rahmen der Ukraine existierte –, hatte sich im Zuge der Auflösung der Sowjetunion 1990 für unabhängig erklärt. Die Abspaltung wurde von der Zentralregierung in Chișinău nicht anerkannt und in einem mehrmonatigen Krieg versuchte die moldauischen Armee erfolglos die Region zurückzuerobern. Seit dem im Juli 1992 geschlossenen Waffenstillstand ist Transnistrien de facto unabhängig. Die Republik Moldau hat durch den militärischen Konflikt endgültig die Kontrolle über die Region verloren. In den folgenden Jahren baute Transnistrien (Pridnestrowskaja Moldawskaja Respublika) eigene staatliche Strukturen auf, gibt eigene Pässe aus und hat eine eigene Währung. Die drei Amtssprachen Russisch, Ukrainisch und Rumänisch werden mit kyrillischen Schriftzeichen geschrieben.

Szeklerland

Vorschlag des Szekler Nationalrates für eine autonome Region des Szeklergebiets (rote Linie)

Im rumänischen Kernland sind es die Szekler, die nach territorialer Autonomie streben. Die über 600 000 Menschen zählende Volksgruppe spricht einen ungarischen Dialekt und wohnt kompakt in den zentralrumänischen Kreisen Covasna, Harghita und Mureș in Siebenbürgen, wo sie die Bevölkerungsmehrheit stellen. Die Szekler haben eine eigene Identität, ein starkes Geschichtsbewusstsein, ethnographische Eigenheiten und benutzten bis ins 20. Jahrhundert eine eigene, runenartige Schrift. In historischen Quellen wurde deren Existenz erstmals im Jahr 1116 bezeugt. Seit der Zugehörigkeit Siebenbürgens zu Rumänien bestand ab 1952 schonmal eine Ungarische Autonome Region (Regiunea Autonomă Maghiară), die in etwa das Gebiet des Szeklerlandes umfasste. 1968 wurde sie vom Ceaușescu-Regime aufgelöst.

Gegen die Pläne der rumänischen Regierung, die 42 Kreise des Landes in acht bis zehn Regionen zusammenzufassen, gehen immer wieder Zehntausende auf die Straße, denn das Szeklerland (ung. Székelyföld, rum. Ținutul secuiesc, lat. Terra Siculorum) würde in einer Großregion untergehen, in der die Szekler plötzlich in der Minderheit wären. Ein Versuch des 2003 gegründeten Szekler Nationalrats, eine Abstimmung zur Autonomie des Szeklerlandes stattfinden zu lassen, wurde von den rumänischen Behörden verhindert. Daraufhin hatte der Nationalrat eine inoffizielle Befragung durchgeführt, welche eine überwältigende Mehrheit für die Autonomie ergab.

Auch der Große Szeklermarsch, bei dem vor drei Jahren mehr als 100 000 Autonomiebefürworter eine 54 km lange Menschenkette quer durch das Szeklerland gebildet hatten, hat ein starkes Signal an die rumänische Regierung gesandt. Die Bewegung ist entschlossen, notfalls auch demokratische Formen des zivilen Ungehorsams zur Erreichung des Ziels einzusetzen. Einer der großen Identifikationsstifter für die Szekler und Inbegriff einer selbstbewussten Region ist – ähnlich wie der FC Barcelona für Katalonien – der Eishockeyclub HSC Csíkszereda in Miercurea Ciuc. Die Bedeutung der Rolle des 14maligen rumänischen Meisters als Projektionsfläche ihres Kampfes für mehr Unabhängigkeit vom rumänischen Zentralstaat ist nicht zu unterschätzen. Das Autonomieprojekt der Szekler, das regionale Selbstverwaltung und Garantie ihrer kollektiven Rechte einfordert, sieht das Südtiroler Modell als Vorbild.

Ein Europa der Bürger

Der neue, progressive Regionalismus, den die Schotten und Katalanen richtungsweisend prägen, ist eine Bewegung, die versucht, in das Europa der Staaten eine Bresche für das Europa der Bürger zu schlagen. Peter Kraus, Professor für Politikwissenschaft in Augsburg, resümierte nach den Regionalwahlen in Katalonien:

Es ist eine neuartige Bewegung, die – wie so vieles, was sich heute in einem sklerotischer denn je anmutenden Europa von unten artikuliert – althergebrachte Raster zu sprengen und einen politischen Paradigmenwechsel anzukündigen scheint. […] Sie ist … Ausdruck einer zivilgesellschaftlichen Selbstorganisation und eines demokratisch getragenen Selbstbehauptungswillens, die auch vor den starren Strukturen etablierter Staatlichkeit nicht haltmachen wollen.[5]

Es wird über die Rolle diskutiert werden müssen, die die Regionen in einem vereinten Europa künftig einnehmen. Dieses Europa wird nicht eine Föderation unabhängiger Staaten sein können, die Souveränität auf eine übergeordnete Gemeinschaft übertragen, sondern ein Europa von frei assoziierten autonomen Regionen. Die Schweiz, die sich nicht um eine einzige Sprache herum gebildet hat, sondern eine multiethnische Willens- und Solidargemeinschaft ist, könnte dabei Modell stehen.

Das kommende Europa wird nicht mehr national organisiert sein, sondern dezentral. Die Nationalstaaten werden verschwinden und an ihre Stelle die Regionen als konstitutionelle Träger Europas treten, unter dem Dach einer Europäischen Republik in einer transnationalen Demokratie vernetzt. Das ist die zentrale Aufgabe Europas im 21. Jahrhundert: der Umbau unseres Kontinents von der Konkurrenz der Nationalstaaten zur Kooperation der Regionen, von seinen Bürgern gleichberechtigt gestaltet.[6]

Anmerkungen:
[1] Zitiert nach Menasse, Robert: Für ein Europa der Regionen. In: Die Gazette, Nr. 46 (Sommer 2015), S. 49-57, hier: S. 50.
[2] Zitiert nach Guérot, Ulrike: Das neue Europa oder die Wiedererfindung der politischen Ästhetik. In: Eutopia Magazine, 30.12.2015.
[3] Südtiroler Landesregierung (Hg.): Autonome Provinz Bozen-Südtirol. Das neue Autonomiestatut, 14. Aufl. Bozen 2009, S. 45.
[4] Schubert, Klaus & Klein, Martina: Das Politiklexikon, 5. Aufl. Bonn 2011.
[5] Kraus, Peter: Spanien – Politischer Rock’n’Roll. In: Süddeutsche Zeitung, 29.9.2015.
[6] Vgl. Guérot, Ulrike: The European Republic Is Under Construction. Vortrag auf der re:publica 2015 – Finding Europe. Berlin, 6.5.2015.

Abbildungsnachweis:
Titelbild: Joanjo Aguar Matoses / flickr / CC BY-NC-SA 2.0
Szeklerland: By Andrein [Public domain], via Wikimedia Commons, 23.12.2010.

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4 Kommentare zu "Regionalismus
Das kommende Europa"

  1. Kowolski sagt:

    Regionalisierung als soziale Demokratisierung
    der Artikel weist an einigen Stellen auf die Ursachen von Sezessionen hin. Im Neoliberalismus unserer Zeit ist der besitzlose und abhängig Beschäftigte trotz absoluter Mehrheit de facto gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse scheinbar machtlos. Die Bürger erkennen, dass nur in einem überschaubaren Gemeinwesen eine soziale und demokratische Ordnung möglich ist. Das Hohelied des linken Internationalismus bringt in der Realität des Globalismus des Kapitals den Besitzlosen gar nichts. Dennoch hält die traditionelle Linke ideologisch daran fest und hilft damit den Status Quo der Umverteilung zu festigen. Da wählen viele lieber nationalliberal, die versprechen ihnen wenigstens nicht soviel Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt (ansonsten bleibt alles gleich).
    Doch immer mehr neue linke Bewegungen wie PODEMOS erkennen das. Ein globaler Tarifvertrag ist Utopie und wird es bleiben. Die Ressourcen eines Landes sind begrenzt. Wer das nicht anerkennt oder ignoriert zerstört den Sozialstaat. Das ist Verantwortungslos und ideologisch blind. Wer die EU retten will muß sie grundlegend sozial und demokratisch erneuern. Die nationale Souveränität ist kein rechtes Teufelswerk, sondern Notwendigkeit solange die EU nur neoliberal gepolt ist. Wer gewachsene Identitäten massiv in Frage stellt kann sogar Bürgerkriege provozieren.
    Im übrigen ist auch Deutschland vor Sezessionen nicht vollkommen gefeit. Der Länderfinanzausgleich wird von den Südländern in Frage gestellt, der Prozess ist noch nicht entschieden.

    Kowolski

  2. linnfried sagt:

    ach, das liest sich zu schön um wahr zu sein… die am ruder befindlichen regierungen werden ihre neoliberalen projekte in den bizarrsten koalitionen zäh verteidigen. woher soll das nötige neue politische personal wohl kommen? und bevor die geschilderte utopie wirklichkeit werden kann, werden vielerorts gewaltausbrüche aufflammen. ungebremste flüchtlingsströme über viele jahre werden in allen eu staaten unreflektierte rechtsrucke auslösen, deren nationalistische effekte die beschriebene regionalisierung verzögern werden. die weltpolitik wird an den grenzen der eu nicht halt machen. es stehen unruhige jahrzehnte bevor.

  3. Thomas sagt:

    Hallo Herr Detemple,

    Ihrer Analyse kann ich durchaus zustimmen, die Regionen versuchen, größere Unabhängigkeit und damit bessere Chancen für eine Demokratisierung herbeizuführen. Danke daher für die zahlreichen Details aus den Regionen.

    Anders dagegen möchte ich Ihren letzten Abschnitt kommentieren: “Das kommende Europa wird …”, “Die Nationalstaaten werden verschwinden …” – das klingt, als wäre es bereits Tatsache. So einfach wird es nicht sein, denn der Impuls in die Gegenrichtung – etwa Juncker, Schäuble, Dijsselbloem, Draghi und Konsorten – haben aktuell recht viel Oberwasser. Der politische Druck in Richtung weiterer Zentralisierung in Brüssel und anderswo sollte nicht unterschätzt werden. Wer, sagen wir in 100 Jahren, gewonnen haben wird, ist nach meiner Einschätzung bei weitem nicht abzusehen.

  4. Pascal sagt:

    Damit Europa wieder handlungsfähig wird ist eine Demokratisierung dringend nötig. Hierbei wird es zwangsläufig zu einer Europäischen Republik kommen.
    Dabei werden die Führer der Nationalstaaten Macht abgeben müssen. Dies dürfte ein Grund sein, weswegen wir immer noch lediglich eine Wirtschaftsunion ohne gemeinsame Wirtschaftspolitik haben.
    Eine Reform ist überfällig denn die Alternativen sind nicht begehrenswert.

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