Die Ablehnung des Karrierismus in der linksalternativen Bewegung
Alternative Ideen und Lebensformen im Sinne einer Alternative zu kapitalistischen Produktionsverhältnissen und bürgerlichen Lebensformen gibt es in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert. Zu den bekanntesten Vorläufern der Alternativbewegung gehören die Bohème und die Jugendbewegung.
Beide sind antibürgerlich, d.h. ihre Mitglieder lehnen zum großen Teil traditionelle Formen des Zusammenlebens wie Familie, ferner beruflichen Aufstieg (der Begriff „Karriere“ war damals noch nicht üblich), Geld und Prestige ab. Geld verdienen war für sie ein „Greuel“.(9)
Vertreter der beiden Bewegungen praktizierten alternative Formen des Zusammenlebens und der Arbeit. Die Mitglieder der Bohème versammelten sich in intellektuellen Zirkeln und Künstlerkolonien. Die Mitglieder der Jugendbewegung versuchten, ein nicht-entfremdetes Verhältnis zur Arbeit und zur Natur herzustellen. Sie realisierten ihre Vorstellungen in den zahlreichen Landkommunen.
Die Nationalsozialisten zerschlugen beide Bewegungen. Erst in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts kam es zu einer Wiederbelebung des alternativen Gedankenguts. Eine wichtige Rolle spielte dabei die antiautoritäre Studentenbewegung. Sie wird auch als Die 68er bezeichnet. Die Repräsentanten dieser Bewegung knüpften einerseits an die Kapitalismuskritik von Karl Marx und von Vertretern der Kritischen Theorie an, andererseits an die Lebensvorstellungen der amerikanischen Beatniks und Hippies. Die Letzteren lehnten alles, was mit Karriere zu tun hat, z.B. Strebsamkeit, Disziplin und Durchsetzungsvermögen, entschieden ab.
Erst Mitte der 70er Jahre taucht der Name „Alternativbewegung“ als Oberbegriff für alle organisierten Formen der Suche nach einem nicht-entfremdeten Leben und Arbeiten auf.
Die Alternativbewegung ist in sich sehr heterogen. Sie umfasst folgende Strömungen und Teilbewegungen: Ökologiebewegung, Friedensbewegung, die undogmatische „Neue Linke“, Spontigruppen und Frauenbewegung. Auch Subkulturen oder ihre Teile wie Dritte-Welt-Initiativen, Landkommunenbewegung und Homosexuellenbewegung können zur Alternativbewegung gerechnet werden.(10)
Parteipolitisch wird die Alternativbewegung von Den Grünen repräsentiert. Obwohl Mitglieder und Wähler der Grünen über die Alternativbewegung hinausgehen, ist der Einfluss der Alternativbewegung in dieser Partei programmatisch und personell sehr stark. Alle genannten Strömungen und Teilbewegungen sind bei den Grünen vertreten.
Die wichtigsten Merkmale der Alternativbewegung sind die Ablehnung der bürgerlichen Gesellschaft und die bereits erwähnte Suche nach einem authentischen, nicht-entfremdeten Leben und Arbeiten. Da die antikapitalistische Note bei den Alternativen stark ist, lässt sich im Fortgang auch von linksalternativer Bewegung sprechen.
Ex negativo lassen sich noch genauer folgende Merkmale dieser Bewegung nennen: Ablehnung von Abhängigkeit, Fremdbestimmung, Zwang, Hierarchie, Autorität, starren Strukturen, traditionellen Rollenbildern, Geld, Reichtum, Konsum, Leistungsprinzip, Konkurrenz, Erfolg, Karriere, Status und Macht.
Positiv lassen sich folgende Merkmale festhalten: Unabhängigkeit, Selbstbestimmung (Autonomie), Freiheit, Gleichheit, Mitbestimmung, Lockerheit, Authentizität, Spontaneität, Flexibilität, Kreativität, Selbstgenügsamkeit, Selbsterfüllung/Zufriedenheit, Selbstverwirklichung und Solidarität.
Stellen wir zwecks besserer Veranschaulichung der linksalternativen Weltsicht die positiven und negativen Merkmale gegenüber: Unabhängigkeit statt Abhängigkeit, Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung, Freiheit statt Zwang, Gleichheit und Mitbestimmung statt Autorität und Hierarchie, Lockerheit, Spontaneität, Flexibilität und Kreativität statt Starrheit, experimentieren mit neuen Rollenbildern statt befolgen von traditionellen Rollenbildern, Selbstgenügsamkeit statt Geld, Reichtum und Konsum, Solidarität statt Konkurrenz, Selbsterfüllung/Zufriedenheit und Selbstverwirklichung statt Leistungsprinzip, Karriere, Erfolg, Status und Macht.
Um die Ablehnung von Karriere durch die Linksalternativen zu verstehen, betrachten wir genauer ihr Verhältnis zur Arbeit. Das Motto der Linksalternativen lautet:
„Weniger arbeiten, anders arbeiten.“(11)
Man arbeitet nicht, um viel Geld zu verdienen, Karriere zu machen und Status sowie Macht zu erlangen. Vielmehr arbeitet man, um sich selbst zu verwirklichen, um ein nicht-entfremdetes, selbstbestimmtes und erfülltes Leben zu haben. Dieser Lebensauffassung folgend werden im Rahmen der linksalternativen Bewegung neue Formen der Arbeit und der Arbeitsorganisation kreiert. Zu erwähnen sind hier insbesondere Alternativprojekte in den Städten und auf dem Land (Kommunen).
Charakteristisch für die Organisationsstruktur der Alternativprojekte ist die Ablehnung von Hierarchien. Hierarchien schaffen Ungleichheit, Abhängigkeit und Konkurrenz. In diesem Zusammenhang muss hervorgehoben werden, dass Karriere machen immer mit Hierarchisierung einhergeht. Wer Karriere macht, steigt auf der „Karriereleiter“ auf, die eine Hierarchie darstellt. In Alternativprojekten zeichnet sich die Arbeitsstruktur nicht durch Hierarchie, sondern durch Gleichheit, Mitbestimmung, Dezentralität und Selbstverwaltung aus. Entscheidungen werden nicht „von oben“, also aufgrund von Hierarchie, sondern durch Diskussionen und Mehrheitsentscheidungen gefällt.(12)
An die Stelle von Konkurrenz treten Mitmenschlichkeit, Solidarität und Humanverträglichkeit. Der Soziologe Walter Hollstein, einer der ersten, die die Alternativbewegung(en) wissenschaftlich untersuchten, betont, dass die „Humanisierung der Arbeitswelt“ ein Thema ist, „dessen Aktualität und Bedeutung die Alternativbewegung wesentlich gefördert hat.“(13)
Die linksalternative Bewegung hat darüber hinaus einen neuen Typus des Selbständigen und des Unternehmers kreiert. Zunächst muss hervorgehoben werden, dass sich Linksalternative vornehmlich für psychosoziale und kreative Berufe entscheiden, Berufe, die Selbständigkeit und Selbstverwirklichung fördern, wie z.B. Psychoanalytiker und Therapeuten anderer psychologischer Richtungen, Sozialpädagogen, Lehrer, Lebensberater, Kulturschaffende (Künstler, Regisseure, Musiker usw.), Designer, Texter und Promoter.(14)
Dem „neuen Selbständigen“ und dem alternativen Unternehmer geht es in erster Linie nicht um Geld, Karriere, Status und Macht, sondern um die Befreiung von abhängiger, entfremdeter Arbeit und um Selbstverwirklichung. Sie möchten sich nicht auf eine bestimmte Tätigkeit und auf bestimmte Berufsrollen festlegen, denn dieses Festlegen führt zur Monotonie, Verstumpfung und letztlich zur Entfremdung. Sie lehnen ferner Vollzeitarbeit, weitreichende Planungen und festgelegte Berufskarrieren ab.
Doch geht es den Linksalternativen nicht nur darum, ein anderes Verhältnis zur Arbeit zu gewinnen, sondern auch, die Arbeitszeit zu reduzieren. Das ist notwendig, um mehr Freizeit zu haben und sich in der Freizeit der eigentlichen Selbstverwirklichung zu widmen – auch dann, wenn die Arbeit einen nicht oder weniger entfremdet. Anders formuliert:
„Teils wollen sie sich aber auch einfach von der Dominanz der Berufsarbeit in ihrem Leben befreien, mehr ´Freizeit` für sich und ihre Interessen haben. Sie nehmen dafür Einschränkungen ihres bisherigen Konsumstandards, auch ihre Absicherung in Kauf.“(15)
Eine besondere Rolle spielt dabei die Teilzeitarbeit. Sie ermöglicht mehr Freizeit, also mehr Zeit für die eigene Selbstverwirklichung, für das Eigentliche des menschlichen Lebens, für kulturelle Hervorbringungen in Philosophie, Musik, Kunst und Literatur.
Flexible Arbeitszeiten ermöglichen wiederum, die Zeit den eigenen Bedürfnissen entsprechend einzuteilen. Der Mensch soll kein Sklave der Zeit sein, sondern über seine Zeit möglichst frei verfügen können.
Die Frauenbewegung wurde oben als ein Teil der linksalternativen Bewegung bezeichnet. Der Soziologe Karl-Werner Brand unterscheidet innerhalb der „neuen Frauenbewegung“ (die neue Frauenbewegung wird auch als die „zweite“ bezeichnet und dadurch von der „ersten Frauenbewegung“, von den sog. Suffragetten abgegrenzt) zwischen dem „linken Feminismus“ und dem „feministischen Feminismus“, der auch als „radikaler Feminismus“ bezeichnet wird.(16)
Der erste legt den Schwerpunkt auf die Kapitalismuskritik. Er sieht den Gegner nicht in dem Mann, sondern im kapitalistischen System. Linke Feministinnen sprechen sich für eine Zusammenarbeit mit Männern aus und möchten mit ihnen das kapitalistische System zugunsten eines sozialistischen überwinden.
Der radikale Feminismus ist in erster Linie antipatriarchalisch. Er kämpft gegen das Patriarchat (die angebliche Herrschaft der Männer), das ihm zufolge historisch älter und tiefer liegender ist als der Kapitalismus.
Zwischen den beiden Formen des Feminismus lässt sich keine trennscharfe Linie ziehen, denn für den radikalen Feminismus sind Strukturen des Kapitalismus und des bürgerlichen Lebens ein Ausdruck des Patriarchats.
Die neue Frauenbewegung weist die Merkmale auf, die wir bei der allgemeinen Charakteristik der linksalternativen Bewegung genannt haben. Es sind vor allem die Ablehnung von Hierarchien, traditionellen Rollenbildern sowohl in der Partnerschaft als auch in der Arbeitswelt, ferner die Ablehnung von Leistungsprinzip, Vollzeitarbeit, Erfolgsstreben, Konkurrenzverhalten, Ellenbogenmentalität und Karriere. Diese Merkmale bzw. Eigenschaften werden als typisch männlich betrachtet. Als Alternative zu dem kalten, zweckrationalen, entfremdeten und insofern „männlichen“ Habitus des Kapitalismus werden „weibliche“ Eigenschaften propagiert, wie z.B. Selbstbestimmung, Emotionalität, Versöhnung von Kopf und Bauch, Intuition, Unmittelbarkeit und Spontaneität.
In anderen Worten: Der Karrierismus sollte in der neuen Frauenbewegung besonders stark zurückgewiesen werden, denn er ist ein Inbegriff für die entfremdeten Strukturen des Kapitalismus und die unterdrückenden Mechanismen des Patriarchats.
Seite 3: Die Rehabilitierung des Karrierismus in der linksalternativen Frauenbewegung
Seite 4: Gründe für die Rehabilitierung des Karrierismus
…ja, die Linken haben die Flexibilitaet und Absorptionsfaehigkeit ihres Feindes immer unterschaetzt – einer der Kardinalfehler linker Theoriebildung…
Wenn Sie hier, wo es um Argumente und um Denken geht, wenigstens den Versuch unternähmen, selbst zu denken, also inhaltlich zu argumentieren, anstatt den Begriff des “Feindes” zu verwenden, der bekanntlich von dem Juristen und Nationalsozialisten Carl Schmitt in die Debatte gebracht wurde, dann zeigen Sie, was Geistes Kind sie sind. Und es ist dabei ganz egal, ob Sie sich womöglich einbilden, politisch ein Linker zu sein. Sollte es so sein: Sie sind es nicht. Den Beweis haben Sie selbst erbracht.
“Lange haben große Teile der Linken Karriere als Ausdruck der Entfremdung abgelehnt. Sie galt als Inbegriff von hierarchischen Strukturen, Konkurrenz und Ellenbogenmentalität. Doch mit dem Feminismus hat sich das geändert.”
Wieviele Frauen und Männer, die Karriere machen (wollen) sind Feminist_innen, und wie viele, die sich Feminist_in nennen, wollen Karriere machen um den Preis systemischer Einhegung? Gibt es dazu vergleichbare Zahlen?
Was genau will uns der Autor dieses Beitrages sagen?
Dass “der Feminismus” (was ist das genau?) schuld daran ist, dass große Teile der Linken Karriere machen nicht mehr als eine Art von Sündenfall ansehen – oder?
Dass große Teile der Linken Karriere als Ausdruck von Entfremdung lange Zeit theoretisch abgelehnt haben, macht ja Sinn. Es liegt in der Natur der Idee begründet, welche das Kollektiv gegenüber dem Einzelnen praeferiert.
In der Praxis hingegen musste dies von Anfang an ein frommer Wunsch bleiben, weil man ‘Nicht-Ziele’ ohnehin nicht anstreben kann und speziell dieses auch noch der menschlichen Natur, nämlich dem Rangstreben, zuwider läuft.
Immerhin aber trachteten die linken Himmelsstürmer zunächst durchaus im Rahmen der Bewegung persönlich voranzukommen, als Anführer, Protagonist oder zumindest wertvolle Stütze oder Bestandteil. Als sich aber abzeichnete, dass das so bald nicht gelingen kann, wurde flugs das Konzept des ‘langen Marsches durch die Institutionen’ entwickelt. Und dankbar aufgegriffen und umgesetzt – jedenfalls von denen, welche die Voraussetzungen dafür mitbrachten.
Und was die Frauen anbelangt: Die waren schon immer ein bisschen pragmatischer als ihre verträumten Männer. Schließlich planen sie nicht immer nur für ein paar Minuten, sondern für Perioden von 9 Monaten plus x.