Eurokrise
Wann kommt der Dexit?

Ein Gedankenexperiment

Hypothetisches Denken, also das Nachdenken in alternativen Szenarien, eröffnet die Chance, einen neuen Blick auf einen scheinbar bekannten Sachverhalt zu erlangen. Wichtig dabei ist es, mit seinen Annahmen und Überzeugungen kritisch ins Gericht zu gehen und neuen Aspekten Zugang in das eigene Gedankenmodell zu gewähren. Die Frage nach dem „Was wäre wenn…“ ist zentral für menschliches Innehalten und Nachdenken über die Welt.

Also: Was wäre wenn nicht Schäuble einen Grexit auf Zeit erwogen hätte, sondern die anderen EU-Länder einen temporären Dexit – einen Ausschluss Deutschlands aus dem Euro und der Europäischen Union (wie es schon vor einigen Wochen in der Freitag Community erörtert wurde). Gehen wir davon aus, die zehn Thesen sind zutreffend und Deutschland ist tatsächlich ein Hindernis für die europäische Integration. Wie würde sich Deutschland und wie die Europäische Union bei einem temporären Dexit weiterentwickeln?

Deutschland müsste endlich seine Hausaufgaben machen und die fünf Jahre auf der Reservebank nutzen, um seine Volkswirtschaft neu aufzustellen: Downsizing ist das Gebot der Stunde! Die neu errichteten Handelsbeschränkungen würde den Außenhandel empfindlich treffen, denn mehr als die Hälfte der Exporte gehen momentan an das europäische Ausland. Es wäre so nicht mehr länger möglich, die Bevölkerung auf Kosten anderer Länder zufrieden zu stellen, deshalb muss verstärkt auf die inländische Nachfrage gesetzt werden (wozu auch Lohnerhöhungen gehören würden). In einem temporären Ausscheiden läge auch die Chance, den eigenen Mittelstand zu stärken, statt sich einen Wettkampf mit anderen Ländern um möglichst niedrige Steuern für transnational agierende Unternehmen zu leisten. Und der Bankensektor müsste wieder auf das unter Bankern als langweilig geltende Kreditgeschäft umschwenken, umso seiner Funktion als Dienstleister für die private Wirtschaft gerecht zu werden.

Allerdings ist Vorsicht geboten, denn der Ausschluss würde langfristig negative Folgen für die Volkswirtschaft haben, denn von der Einbindung in internationale Märkte gehen mehr Vorzüge als Nachteile aus. Es geht bei diesen drastische Strukturanpassungsmaßnahmen lediglich um den Abbau von Überkapazitäten und die Neuausrichtung der industriellen Struktur. Diese Konsolidierung wird schmerzhaft sein. Für das Bestreben, das Land wieder auf Kurs zu bringen und um es später in einen einheitlichen und stabilen europäischen Wirtschaftsraum integrieren zu können, sind diese Maßnahmen aber dringend erforderlich.

Man bedenke auch, was ein temporärer Ausschluss für die Bevölkerung bedeutet. Barrieren in der Freizügigkeit würden neu aufgerichtet werden – ein Rückfall in die 80er Jahre, der für die Bevölkerung spürbar macht was es heißt, nur mit Mühe Grenzen überqueren zu können. Spätestens beim nächsten Sommerurlaub auf den Balearen sollte das klar werden.
Für die Europäische Union bedeutet ein Dexit, dass die Widerstände gegen eine grundlegende Neuausrichtung der europäischen Institutionen deutlich geringer wären. Die verbleibenden Staaten hätten die Möglichkeit, sich an die Stärken eines gemeinschaftlichen Europas auszurichten und von nationalen Regierungen weitgehend unabhängig zu werden. Zentral hierfür ist die Erarbeitung eines föderalen Europas, dessen politischer Kern das Europäische Parlament mit seinen vom Volk direkt legitimierten Vertretern ist. Dazu muss das Parlament mit Haushaltsrechten und weitreichenden Kompetenzen in der Gesetzgebung ausgestattet werden.

Will Europa erfolgreich sein, führt kein Weg an einer politischen Union vorbei, die mit dem vollen Instrumentarium der Fiskalpolitik ausgestattet ist (wozu eine angemessene Besteuerung von Finanztransaktionen ebenso gehört wie die Einführung von Euro-Bonds). Damit entgeht man dem bereits Anfang der 70er Jahre in einem Essay des britischen Ökonomen Nicholas Kaldor (The Dynamic Effects of the Common Market, 1971) angesprochenen Fehler der einseitigen Gründung einer Währungsunion ohne eine politische Union. Gerade die unkonventionellen und weitreichenden Maßnahmen der EZB zeigen die Notwendigkeit auf, ein fiskalisches Pendant zur Geldpolitik zu schaffen und die Zentralbank zu entlasten.

Ein temporärer Ausschluss Deutschlands würde auch die wiederkehrenden Verhandlungen zwischen den Geldgebern und der griechischen Regierung vereinfachen, denn deutsche Dickköpfigkeit müsste einer fairen und sachlichen Erörterung weichen. Zudem ist anzunehmen, dass private Investoren Anlagemöglichkeiten außerhalb Deutschlands suchen und mehr in andere europäische Länder drängen würden, wodurch volkswirtschaftliche Ungleichheiten abgemildert werden.

Neuverhandlungen

Gegeben, dieses neue Modell Europas wird umgesetzt, sollten nach fünf Jahren Verhandlungen über die Wiederaufnahme Deutschlands in die Europäische Union begonnen werden. Diese Verhandlungen sind ergebnisoffen, jedoch muss sich Deutschland zwingend an die neuen Verträge halten. Spielregeln müssen akzeptiert werden; die Aufnahme Deutschlands ist an strenge Auflagen gebunden: Große Teile der nationalen Souveränität werden an die neuen Institutionen abgegeben (was dem Grundgesetz keinesfalls widerspricht). Ebenso wird jegliche Zahlung von Subventionen im Falle von nicht abgesprochenen, unilateralen Handlungen (sog. „unilateral actions“) eingestellt. Zentral für die Wiederaufnahmen ist darüber hinaus auch, dass Deutschland seine Schulden aus dem zweiten Weltkrieg begleicht (u.a. entstanden aus Zwangskrediten) und Entschädigungszahlungen an die Opfer des Nationalsozialismus veranlasst.

Zum Wohle der Menschen Europas muss ein ökonomisches und politisches Gleichgewicht auf dem Kontinent gewahrt werden. Deutschland ist angehalten, möchte es erneut Mitglied in dieser Gemeinschaft sein, seinen Beitrag für ein solidarisches und demokratisches Europa zu leisten. Andere Möglichkeiten der Einbindung, etwa eine privilegierte Partnerschaft, sollten aber nicht von vornherein ausgeschlossen werden.

Alles auf Anfang

Diese Darstellung ist natürlich überzeichnet, denn die Realität, zumal die politische Realität in Europa, ist viel komplexer und die Interessenlagen sind keineswegs so eindeutig wie hier unterstellt wird. Ganz im Gegenteil kommt Europa nicht umher, Deutschland bei der Neugestaltung der europäischen Institutionen zu integrieren. Das Land muss allerdings dazu bereit sein. Stammtischparolen, nationalistische Untertöne und wirtschaftliche Überheblichkeit helfen dabei genauso wenig weiter wie Regelpedanterie, Preußendisziplin und Dickköpfigkeit. Damit ist sicher kein gemeinschaftliches Europa zu gestalten. Doch welche Regierung wird couragiert genug sein um Politik zum Wohle des gesamten Kontinents zu machen und nicht primär rein nationale Interessen zu bedienen? Im Land der Großkoalitionäre wird man wohl noch eine Weile warten müssen.

Artikelbild: Generation X-Ray / flickr / CC BY-NC-SA 2.0

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5 Kommentare zu " Eurokrise
Wann kommt der Dexit?"

  1. Marcel sagt:

    Dem möchte ich noch eine 11. These hinzufügen.

    11. Deutschland saugt die “Intelligenz” vieler anderer EU-Staaten aus und hinterläßt dort “verbrannte Erde”:

    Die Reisefreiheit/Niderlassungsfreiheit(das Schengen Abkommen u
    .A.) in Verbindung mit dem Euro und auch ggü. Ländern die den Euro nicht haben führt durch die starken Lohngefälle dazu, dass Fachkräfte aller Art aus den austeritätsgebeutelten Staaten im gesamten Süden, denen im Westen wie auch den nicht-Euro Staaten in Süd-Ost-Europa, in den Norden abwandern.
    Speziell nach Deutschland, Skandinavien und die Beneluxstaaten. Zuhause hinterlassen die Massen an abgweanderten Fachkräfte Leeräume die nicht mehr besetzt werden können. Ob Ingenieure, Ärtze, Pfegekfräfte oder Andere, es entsteht ein Mangel der dazu führt, dass diese Länder niemals Wirtschaftlich aufholen können und sich somit das Lohngefälle auch niemals an die “Nord-Länder” angleichen wird – Ein Teifelskreis, der diesen “Fachkräfteklau” weiter am laufen halten wird. Eines der von ihren Fachkräften befreiten Länder ist Bulgarien, hier nur ein Beispiel aus der Hauptstadt Sofia, dort gibt es 60 Rettungswagen, doch aufgrund der Rettungskräftemangels kann Sofia nur noch 23 der Rettungswagen besetzten, was zu Ärger und Toten führt (gesehen in arte Reportage). Nebenbei zahlen diese gebeutelten Länder dem “Norden” auch noch die Ausbildung dieser Fachkräfte.

  2. EuroTanic sagt:

    Ein Neuanfang alleine reicht nicht. NIcht nachhaltig. Das System muss sich gänzlich ändern. Weg vom ewigen Wachstum. Weg vom Konkurrenzprinzip. Weg vom Globalismus. Weg vom Militarismus. Weg vom Zwang.
    Das bedeutet ein völlig neues Bewusstsein der Massen wäre notwendig.

  3. Guter Artikel oben, weil gute Idee einmal statt zum „Grexit“ vielmehr zum „Dexit“ anzuregen und damit auf die führende Rolle Deutschlands bei diesem fürchterlichen Trauer-“Spiel“ hinzuweisen. Auch die 11. These in Marcels Kommentar ist meines Erachtens vollkommen zutreffend. EuroTanic denkt meines Erachtens ebenfalls in die richtige Richtung, nur – ein neues Bewußtsein der Massen, um zu einer wirklichen Systemänderung zu gelangen, dies halte ich – vorerst – für illusorisch, denn auf einen solchen Bewußtseinssprung wie er in diesem Falle nötig wäre, sind die Massen innerhalb der Bevölkerung derzeit nicht im Geringsten vorbereitet.

    Was ich hingegen für möglich halte ist, daß eine im Vergleich zu den Massen gewiß geringe, dennoch aber ausreichende Minderheit kritisch denkender Menschen auf politischen Gebiet soviel Einfluß erlangt, daß die längst dringend nötige Systemänderung dennoch stattfinden kann. Dies müßten Menschen sein, die genau zwischen oberflächlichen systemkosmetischen Veränderungen und grundlegendem Wandel unterscheiden können und dem Letztgenannten (gerade auch in ihrer persönlichen Lebensgestaltung!) klar entschieden den Vorzug geben und – auch innerhalb der kritischen Teile Bevölkerung – echten Rückhalt genießen. Außerdem sollten – ja müßten dabei die bislang in den verschiedenen Denkschulen für gewöhnlich ausgetragenen ideologischen Zwiste und auch die persönlichen Eifersüchteleien, kurz das derzeit vielfach immer noch stattfindene eitel-oberflächliche Geplänkel um die Deutungshoheit ein Ende finden, dann meine ich, bestünde eine echte Chance auf eine wirkliche Systemänderung, der die Massen dann – anfangs gewiß erst einmal sehr zögerlich, dann aber ihrer Natur getreu in ziemlicher Geschlossenheit folgen würden.

    Wenn dann – in der allmählichen Umsetzung des Systemwandels – echter und uneingeschränkter Respekt vor dem jeweils Anderen und wirklicher Respekt vor unserem Lebensraum der Natur als wahrer Kern des neuen Gesellschaftsystems immer deutlicher und klarer auch für die einfachen Menschen erkennbar würde, dann wären die Auseinandersetzungen um die ganzen Angelegenheiten am „Ende“ wohl auch wirklich gewonnen.

    W. Oesters (zeitgeistkrit. Website „achtgegeben.de“)

  4. Oberlehrer Hansi sagt:

    Zitat aus Punkt 7:

    “Mehr noch weigert sich die deutsche Regierung, seinen Egoismus in der Flüchtlingspolitik zur Seite zu legen …”

    Das Posessivpronomen singular für Femininum (die Regierung) lautet ihr/ihre/ihr, von daher müsste der obige Satz korrekt so heißen:

    “Mehr noch weigert sich die deutsche Regierung, i h r e n Egoismus in der Flüchtlingspolitik zur Seite zu legen …”

  5. Die Redaktion hat Ihre Belehrung zur Kenntnis genommen.

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