Geopolitik
Russland, Hindernis für das “Globale Amerika”

Europa muss aufwachen

Am Vorabend des 11. September 2001 hatte Amerika – dank der NATO – seinen Einfluss auf Europa verstärkt. Es hatte den bosnischen und albanischen Islam gestärkt und Russland aus dem jugoslawischen Raum verdrängt.

Im Jahr 2000 fand jedoch ein bedeutendes Ereignis statt, vielleicht das wichtigste seit dem Ende des Kalten Krieges (wichtiger noch als der 11. September 2001): die Machtübername Wladimir Putins. Das ist eines der Umschwünge in der Geschichte, die zur Folge haben, diese zu ihren Grundlagen und ihren Konstanten zurückzuführen.

Putin hatte ein sehr klares Programm: Russland mit dem Hebel der Energieexporte wieder aufzurichten. Die Kontrolle über die Bodenschätze musste Oligarchen entrissen werden, die sich kaum um das nationale Interesse scherten. Es mussten mächtige Öl- (Rosneft) und Gasunternehmen (Gazprom) aufgebaut werden, die dem Staat und seiner strategischen Vision verbunden sind. Aber Putin enthüllte noch nicht seine Absichten zum amerikanisch-chinesischen Machtkampf. Er ließ diese Frage offen.

Einige, darunter ich, vertraten damals die Ansicht, dass die russisch-amerikanische Konvergenz vorübergehend und zweckgebunden sein würde (die amerikanische Doktrin des Kriegs gegen den Terror unterband vorübergehend die Kritik der USA am russischen Vorgehen in Tschetschenien), und hatten von Anfang an begriffen, dass Putin eine unabhängige Politik Russlands wiederaufbauen würde; andere dachten wiederum dass er prowestlich sei. Er musste mit Tschetschenien fertig werden und die Kontrolle über das Erdöl zurückgewinnen. Das war eine schwierige Aufgabe. Ein eindeutiges Zeichen machte allerdings deutlich, dass Putin zu den Grundlagen der russischen Großmachtpolitik zurückkehrte: der Politikwechsel zugunsten des Iran und die Wiederaufnahme von Waffenverkäufen in dieses Land sowie die Wiederaufnahme der Kooperation im Bereich der zivilen Nutzung der Kernenergie.

Warum war die Machtübernahme Putins ein derart bedeutendes Ereignis? Obwohl es damals noch nicht so klar ersichtlich war, bedeutete dessen Amtsantritt, dass Russlands Nichtbeitritt in den transatlantischen Raum die amerikanische Unipolarität zum Scheitern bringen würde und somit auch die Grand Strategy, die darauf abzielte, China das Rückgrat zu brechen und das Aufziehen einer multipolaren Weltordnung zu verhindern.

Darüber hinaus verstanden viele Europäer nicht sofort, dass Putin die Hoffnung einer Antwort auf die Herausforderungen des globalen wirtschaftlichen Wettstreits verkörperte, basierend auf der Identität und der Zivilisation. Vermutlich verstanden das die Amerikaner besser als die Westeuropäer. Hatte es George W. Bush nicht selber zugegeben, als er eines Tages erklärte, er hätte in Putin einen Mann gesehen, der zutiefst vom Interesse seines Landes beseelt sei?

Der 11. September 2001 bot den Amerikanern die Möglichkeit, ihr Programm der Unipolarität zu beschleunigen. Im Namen des Kampfes gegen ein Übel, das sie selber geschaffen hatten, erhielten sie problemlos die uneingeschränkte Solidarität der Europäer (also mehr Atlantizismus und weniger “Großmacht Europa”), eine vorübergehende Annäherung an Moskau (um den tschetschenisch-islamistischen Separatismus niederzuschlagen), ein Zurückdrängen Chinas gegenüber dem russisch-amerikanischen Bündnis in den muslimischen Ex-Sowjetrepubliken, ein Fuß in Afghanistan an der Westgrenze Chinas und südlich von Russland und eine markante Rückkehr in Südostasien.

Aber die amerikanische Euphorie in Zentralasien dauerte nur vier Jahre. Die Furcht vor einer bunten Revolution in Usbekistan brachte die usbekische Führung, die für einen Augenblick versucht war, als Gegengewicht zum großen Bruder Russland zur Großmacht Zentralasiens aufzusteigen, dazu, die Amerikaner zu vertreiben und sich Moskau anzunähern. Washington verlor dann ab 2005 viele Stellungen in Zentralasien, so wie es in Afghanistan weiter an Boden verliert. Und das trotz der Hilfstruppen, die es von den europäischen Staaten, – welche unfähig sind das Schicksal ihrer eigenen Zivilisation in die Hand zu nehmen -, gegen die pakistanisch-talibanischen Allianz einfordert. Die pakistanisch-talibanische Allianz wird ihrerseits diskret von den Chinesen, die Amerika aus Zentralasien verdrängen wollen, unterstützt.

Die Chinesen können erneut davon träumen, Anteile am kasachischen Öl und turkmenischen Gas zu bekommen und dafür Transportrouten in ihr Turkestan (die Provinz Xinjiang) zu bauen. Peking hofft auch auf Russland, das in Zukunft seine Energielieferungen nach Europa mit denen nach Asien ausbalancieren wird (nicht nur nach China, sondern auch nach Japan, Südkorea, Indien…).

Das Spiel von Putin erscheint somit klar und deutlich. Er konnte sich mit Washington einigen, um den Terrorismus zu bekämpfen, der Russland so stark getroffen hatte. Aber er hatte nicht die Absicht, auf die legitimen Ansprüche Russlands zu verzichten: die Aufnahme der Ukraine (die Ukraine ist für Russland eine Schwesternation, sie ermöglicht den Zugang zum Mittelmeer über das Schwarze Meer dank dem Hafen von Sewastopol auf der Krim) und Georgiens in die NATO zu verhindern. Und wenn die Amerikaner und die Länder der Europäischen Union die Unabhängigkeit des Kosovos unterstützen konnten, warum hätten die Russen nicht das Recht die von Südossetien und Abchasien zu unterstützen, deren Bewohner sich von Georgien abspalten wollen?

Mackinder hatte also Recht. Im großen zentralasiatischen Spiel bleibt Russland der entscheidende Spieler. Es ist die Politik von Putin, viel mehr als die von China (obwohl sie das Hauptziel Washingtons ist, da mögliche größte Weltmacht), die Washington den Weg versperrt hat. Es ist diese Politik, die die Energieachse Moskau (und Zentralasien)-Teheran-Caracas hat entstehen lassen, die ein Viertel der weltweit nachgewiesenen Erdöl- und nahezu die Hälfte der Erdgasreserven (die kommende Energiequelle) auf sich vereint. Diese Achse bildet das Gegengewicht zum von Amerika eroberten arabischen Öl und Gas.

Washington wollte durch die Kontrolle der Energiequellen China die Luft abschnüren. Aber selbst wenn Amerika in Saudi-Arabien und im Irak (die Nummern 1 und 3 der nachgewiesenen weltweiten Erdölreserven) präsent ist, so kontrolliert es weder Russland, noch den Iran, noch Venezuela, noch Kasachstan. Im Gegenteil – diese Länder rücken zusammen. Gemeinsam sind sie entschlossen die Vormachtstellung des Dollar in der Weltwirtschaft zu beenden (die es Amerika erlaubt, ihr riesiges Haushaltsdefizit von den Europäern stützen zu lassen und seinen bankrotten Geschäftsbanken unter die Arme zu greifen).

Niemand bezweifelt, dass Washington versuchen wird, dieser russischen Politik ein Ende zu bereiten, indem es weiter Druck auf die Nachbarländer Russlands ausüben wird. Die Amerikaner werden versuchen, Energietransportwege über Land (Öl- und Gaspipelines) aufzubauen – alternativ zum russischen Netz, das sich über den gesamten eurasischen Kontinent erstreckt, um sowohl Europa als auch Asien zu versorgen. Aber was kann Washington gegen das energetische und strategische Herz Eurasiens unternehmen? Russland ist eine Atommacht. Die vernünftigen Europäer, die von der Desinformation der amerikanischen Medien nicht zu verblendet sind, wissen, dass sie mehr auf Russland angewiesen sind als umgekehrt. Ganz Asien, dessen Wirtschaft stark wächst, verlangt nach russischem und iranischem Öl und Gas.

Unter diesen Bedingungen, und während die multipolare Weltordnung entsteht, täten die Europäer gut daran aufzuwachen. Wird die tiefe Wirtschaftskrise, in der sie dauerhaft zu versinken scheinen, zu diesem Aufwachen führen? Man kann nur hoffen, dass dies der positive Ausgang der grossen Schwierigkeiten sein wird, die die Völker Europas in den kommenden Jahrzehnten werden erleiden müssen.

Der Beitrag erschien ursprünglich auf Heartland. Der Autor Aymeric Chauprade ist Politikwissenschaftler, ehemaliger Dozent an der französischen Generalstabsakademie, Autor von Standardwerken zur Geopolitik und Mitbetreiber des Portal realpolitik.tv.

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7 Kommentare zu "Geopolitik
Russland, Hindernis für das “Globale Amerika”"

  1. Hallo sagt:

    Also dass die USA eine liberale und demokratische Welt wollen, so wie sie von ihren Gründervätern erwünscht war, lässt sich doch schon daran widerlegen, dass die USA viele Diktaturen (Saudi-Arabien, Quatar etc.) unterstützen oder sogar den Umsturz von demokratisch gewählten Politikern bewirkt haben (Salvatore Allende etc.).

    • tiara013 sagt:

      Man könnte sich auch ansehen, wie viele der USA-Gründerväter persönlich Sklavenhalter waren. Thomas Jefferson etwa (Präsident 1801–1809) war Besitzer einer Tabak-Plantage in Virginia, auf der versklavte Afrikaner arbeiteten. Jefferson war es, der “all men are created equal” in die US-Unabhängigkeitserklärung schrieb. Aber natürlich, auch von jenen die keine Plantagen besassen, gab es keine Gegnerschaft zur sklavereibasierten Plantagenökonomie. Das “Liberale” galt nur für Jene, die als gleichrangig gesehen wurden, und das wurden auch viel später auch Iren (Einwandrerer) oder Spanier (Krieg 1898) nicht

  2. blogfighter sagt:

    Eine hervorragende Analyse, die in fast allen Erkenntnissen übereinstimmt (und sie ergänzt) mit der hervorragenden Analyse Egon Bahrs in “Das Blättchen”, deren Studium und Propagierung ich ebenfalls nur empfehlen kann/muss: http://das-blaettchen.de/2012/06/im-gespraech-mit-egon-bahr-12607.html

  3. vonkorf sagt:

    Keine Frage, die USA, das meint, bestimmte sehr einflussreiche Figuren aus Finanzwelt und Wirtschaft, wollen die gesamte Welt (den Globus) nach ihren Bedürfnissen gestalten. Ein solcher Vorgang erfordert zudem die Kontrolle des öffentlichen Bewusstseins mit dem Ziel, den entsprechenden Konsens im Volke zu organisieren, ohne dass das Volk zustimmt. Adäquat ist beispielsweise die permanente Berichterstattung in den wichtigsten Medien. Was aber für Uncle Sam gut ist, wird nicht zwangsläufig gut für andere sein.

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