Miese Zeiten

Wirtschaftliche Austerität und Neopuritanismus

Sexueller Puritanismus in Zeiten des Sparens und Gürtelengerschnallens – das passt nicht nur ganz zufällig wunderbar zusammen, die Sexismusdebatte hat auch erfolgreich von der Makropolitik abgelenkt.

Sexismusdebatte in Deutschland. Bild: Luckysue, "Teenager-Spruch". Some rights reserved. Quelle: pigs.de

Sexismusdebatte in Deutschland. Bild: Luckysue, “Teenager-Spruch”. Some rights reserved. Quelle: pigs.de

Von Sebastian Müller

Über Wochen wurde die deutsche Medienlandschaft von einer an Abstrusität nicht mehr zu überbietenden Sexismusdebatte beherrscht, dessen Quintessenz wohl diese ist: In Zeiten der liberalen Marktgesellschaft, in der längst das Prinzip “Sex sells”, die Vermarktung des fremden und eigenen Körpers zu einer nicht mehr wegzudenkenden Geschäfts- und Wettbewerbspraxis geworden ist, wird ein “sexueller Neopuritanismus” – wie Alexander Grau das Phänomen im Cicero treffend formulierte – als Verhaltenskodex einer neu zu etablierenden Doppelmoral entdeckt.

Im Windschatten dieser Debatten freilich, gänzlich unbemerkt und verborgen von den Schwaden rauchender Köpfe, findet die große Politik der Hinterzimmer statt: Und was hier scheibchenweise und von den Medien fast als Randnotizen aufbereitet, immer wieder ans Tageslicht dringt, mutet weit besorgniserregender an als Brüderles Balzverhalten; es geht um nichts anderes als den weiteren Ausbau der oben genannten Marktgesellschaft – sprich um einen europäischen Marktradikalismus.

Während sich scheinbar die ganze Nation darüber echauffiert, welche Prinzipien politischer Korrektheit von Mann unbedingt eingehalten werden müssen, um einen Flirt nicht in plötzlichen Sexismus entgleiten zu lassen, gehen Meldungen ob einer Medienzensur in Griechenland, oder gar einer geplanten Internet- und Journalistenüberwachung seitens der EU, als auch der geplante neue Wettbewerbs-Pakt, der eine Agenda-Politik für ganz Europa vorschreibt, so gut wie unter.

Doch vielleicht gibt es zwischen ökonomischer Katerstimmung und dem wieder aufflammenden Geschlechterkampf mehr als eine rein zufällige Überschneidung. Im Geschachere auf dem rauer werdenden Arbeitsmarkt, im Kampf um Karriere, Pfründe und Quote mag auch die Sexismusdebatte ein weiteres As im Ärmel privilegierter Karrieristinnen und Lobbyistinnen sein. Tatsächlich ist zwar auch die Frau als konkurrenzbelebendes Element im neoliberalen Verteilungskampf zwischen den Reservearmeen der Lohnempfänger höchst willkommen, dass der inszenierte Geschlechter- dabei den Klassenkampf verdeckt, aber wohlfeil.

Dass der – so gemieden der Begriff auch heutzutage wird – in Zukunft nicht verschwinden wird, sondern gnadenlos von Oben gegen Unten geführt wird, zeigen die oben genannten Meldungen der vergangenen Tage. Diese sind, obwohl fatalerweise wenig beachtet, in ihrer Brisanz kaum zu überschätzen und nur im Bezug zueinander richtig zu deuten.

Trübe Aussichten

Es dämmert dem Einen oder Anderen, dass die Troika den Zustand wirtschaftlicher Depression und hoher Arbeitslosigkeit in der südlichen Peripherie Europas mit ihrer rigorosen Austeritätspolitik völlig bewusst aufrecht erhält und verschärft. In diesem Kontext war die vor wenigen Tagen beschlossene Kürzung des EU-Budgets erst das Ende vom Anfang. Danach – wahrscheinlich schon beim EU-Gipfel im März – kommt der neue Wettbewerbs-Pakt, der eine Agenda-Politik für ganz Europa vorschreibt, und somit neoliberale Arbeitsmarkt- und Sozialreformen durch den Status Quo der Krise legitimieren lässt. Denn wer kürzt, muss auch sparen – oder umgekehrt.

Auch eine weitere, insbesondere vom britischen Premier David Cameron forcierte und von der Bundeskanzlerin mitgetragene „Liberalisierung“ des Binnenmarkts dürfte dann anstehen. Dienstleistungen und kommunale Daseinsvorsorge würden dann mit hoher Wahrscheinlichkeit – ähnlich wie in Großbritannien – auf dem Altar des Marktes und der „Wettbewerbsfähigkeit“ geopfert werden. Die geplanten Richtlinien der EU-Kommission zur Privatisierung des Trinkwassers, gegen die immerhin eine EU-Petition läuft, ist da nur ein bitterer Vorgeschmack.

Dass mit alledem schon seit geraumer Zeit eine Politik gegen die Interessen der Bürger durchgesetzt wird, ist den Granden der EU-Bürokratie selbstredend bewusst. Insofern soll die Austeritätspolitik nun auch durch eine Medienzensur flankiert werden – auch dies bisher kaum mehr als eine Randmeldung. Als vor gut zwei Jahren die einschneidenden Mediengesetze der rechtsnationalistischen Regierung in Ungarn publik wurden, war der #Aufschrei hingegen noch groß.

In Griechenland, dem europäischen Versuchslabor des Neoliberalismus, ist man indes einen Schritt weiter. Die griechische Technokraten-Junta versucht Potemkinsche Dörfer zu errichten, indem gegen Androhung von Strafe verboten wurde, im Fernsehen Bilder von verwahrlosten, verarmten oder bettelnden Bürgern zu zeigen. Denn die Tatsache, dass in einem Land in Europa wieder Zustände wie in der Dritten Welt herrschen, würde, so ein Regierungssprecher, “das Bild des Landes im Ausland verzerren und somit dem Land Schaden zufügen”.

Ob nun von einer Medienaufsicht genau festgelegt wird, welche Bilder gezeigt werden dürfen und welche nicht, oder in allen Mitgliedsländern von der EU-Kommission kontrollierte “Medienräte” eingeführt werden, die mit der Befugnis zur Verhängung von Strafen und zur “Suspendierung” von Journalisten ausgestattet sind – die Anzeichen eines aufziehenden autoritären Kapitalismus, ja Europas, dem das strukturelle Demokratiedefizit zum Verhängnis wird, lassen sich kaum noch leugnen.

Spätkapitalistische Reizüberflutung

Vom offensichtlichen Feldzug, der im Namen von “mehr Europa” gegen die EU-Bürger geführt wird, lenken jedoch immer wieder zahlreiche, oft belanglose Nebenkriegsschauplätze ab, die zweifelsohne Katalysatoren einer politischen Unzufriedenheit sein mögen. Die ohnehin an der Sache vorbei gehende, weil am völlig falschen Aufhänger begonnene Sexismusdebatte, ist ein solcher Nebenkriegsschauplatz und Katalysator in einem Zeitgeist ökonomischer, politischer und gesellschaftlicher Restauration.

Die Sehnsucht(?) nach einem neuen Puritanismus, den nicht nur manch radikale Feministin fordert, sondern auch von jenen Frauen mehr oder weniger bewusst goutiert wird, die da besonders laut und unreflektiert #aufschreien, mag Symptom einer konservativ angehauchten Prüderie in Zeiten einer jedoch kaum hinterfragten, spätkapitalistischen Reizüberflutung sein. Überspitzt: Die Generation Porno fühlt sich sexistisch bedrängt.

Dieses widersprüchliche Biedermeiertum passt ohnehin in ein Klima, in der die Gürtel allenthalben enger geschnallt, von der Politik mehr Disziplin und Enthaltsamkeit gefordert, und die Haushaltsetats und Sozialleistungen in Europa zusammengestrichen werden. Oder anders formuliert: jedwede Disziplinierung – oder noch deutlicher: jedweder Autoritarismus – und (sexuelle) Freiheit vertragen sich schlecht.

So sehr eine ernsthafte Debatte über Sexismus am Arbeitsplatz ihre Berechtigung hätte, wäre die Diskussion um die Arbeitsbedingungen in Zeiten immer größerer “Flexibilisierung”, ständiger Verfügbarkeit und schwindender Arbeitnehmerrechte insgesamt, weitaus interessanter und wichtiger. Doch momentan ist die ungebrochene Aufmerksamkeit für Quote, Gleichstellung und Sexismus, die von den Vertreterinnen des Gender-Mainstreamings nicht nur befeuert, sondern auch instrumentalisiert wird, lediglich Ausdruck einer neoliberalen Karriereleiter-Logik, die sich den zunehmend wieder repressiver werdenden Mechanismen des Produktions- und Arbeitsprozesses kritiklos unterwirft. Der Feminismus ist Marktkonform.

Artikelbild: Luckysue, “Teenager-Spruch”. Some rights reserved. Quelle: pigs.de

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14 Kommentare zu "Miese Zeiten"

  1. Frau Lehmann sagt:

    So ist es! Vielen Dank für diese präzise Zusammenfassung!

  2. Günter Buchholz sagt:

    Ich stimme der Analyse von Sebastian Müller zu, insbesondere der Einschätzung , dass sich “die Anzeichen eines aufziehenden autoritären Kapitalismus, ja Europas, dem das strukturelle Demokratiedefizit zum Verhängnis wird, (…) kaum noch leugnen” lassen. So ist es. Die Entmachtung der Parlamente ist bereits weit fortgeschritten. Die nationalen Rechtssysteme werden vom europäischen Recht, das aus Staatsverträgen, nicht aus Verfassungen abgeleitet wird, autoritativ überformt. Die zentrale EU-Politik in Brüssel wird durch die neoliberalen Staatsverträge, die nationalen Exekutiven und den äußerst intensiven Lobbyismus bestimmt. Das EU-Parlament schaut zu, bemüht sich um mehr Einfluß und leidet an seiner relativen Machtlosigkeit.

    Die Gender Mainstreaming – Politik mit ihrem korrupten Proporz-Prinzip ist ein integraler Bestandteil dieses bereits deutlich erkennbaren autoritären Kapitalismus, obwohl diese Politik im Widerspruch zum – sonst “heiligen” – Wettbwerb steht.
    Aber das schert keine EU-Justizkommissarin.

    Die aktuelle Krise wird von der Berliner Politik sehr entschlossen als Hebel genutzt, um sich die restliche Europäische Union als ökonomische Semi-Peripherie unterzuordnen. Das ist – neben der Bedienung der Gläubigerinteressen – das politische Ziel, nicht die Einleitung einer wirtschaftlichen Erholung. Der aufziehende autoritäre Kapitalismus soll – und wird wahrscheinlich tatsächlich – unter deutscher Führung stehen, und d. h unter Führung derjenigen privilegierten Minorität, die der deutschen Politik die Ziele und z. T. die Strategien vorzugeben in der Lage ist. Europa soll – im Vergleich mit anderen konkurrierenden Wirtschaftsgroßregionen – durch Herstellung von Massenarmut wettbewerbsfähig gemacht werden. “Arbeit wird billig wie Dreck” hat Horst Afheldt, weit vorausschauend, dazu schon vor vielen Jahren geschrieben.

    Ob ein politischer Prozess mit einer solchen Tendenz noch vom Grundgesetz gedeckt wird, das ist – mindestens – sehr zweifelhaft. Die Lektüre von Art. 20 GG ist in diesem Zusammenhang zu empfehlen. Der Souverän ist gefragt!

    Ergänzend sei hier hingewiesen auf Wolfgang Streeck:

    http://www.lettre.de/beitrag/streeck-wolfgang_die-krisen-des-demokratischen-
    kapitalismus

    und im Hinblick auf die neopuritanische, ebenso schwachsinnige wie bösartige mediale Sexismus-Kampagne auf:

    Bernhard Lassahn
    Vergewaltigungen, Witze, Wanderwege, Juden, Attacken, Ölweiber und Strickmuster

    http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/article/vergewaltigungen_witze_wanderwege_juden_attacken_oelweiber_und_strickmuster/

    wo das nötige dazu gesagt wird.

    • Reyes Carrillo sagt:

      Halb-OT: So schnell kann’s gehen: Ich finde Ihren Kommentar zu dem ausgezeichneten Artikel von Sebastian Müller wirklich gut – und dann kommt es irgendwie über Sie und Sie sind sich nicht zu schade bzw. Ihre Finger bleiben offenbar tatsächlich nicht an der Tastatur kleben, wenn Sie zum Ende ausgerechnet auf die “Achse des Guten” (ist ja widerlich!) und den ellenlangen, anstrengend bemüht komisch-lockeren Artikel von Bernhard Lassahn inkl. wirren Rassismus-Vergleich verlinken. Schüttel! Dieser in geradezu lächerlicher Obsession und Duktus stellenweise immer wieder an den Stil seines berüchtigten Blog-Hausherrn erinnernde #Aufschrei des Mannes Lassahn “sagt” Ihrer Ansicht nach also “das Nötige” dazu. Aha. In der Debatte um Ihren eigenen Artikel “Contra Quote” empfand ich Ihre ebenso etwas zu überhitzte Auseinandersetzung mit einer noch überhitzteren @Marie schon als grenzwertig, Ihre jetzige Verlinkung inkl. Ihrer dazu abgegebenen Bewertung lässt mich nur noch verblüfft staunen – und lässt Ihren Artikel langsam in einem neuen Licht erscheinen! Damit aber keine Missverständnisse aufkommen: Ich bin ganz wie Sie contra Quote! Und absolut pro, was Müllers Artikel betrifft.

      • Sebastian Müller sagt:

        Liebe Reyes,

        auch auf die Gefahr hin, mich in Deinen Augen nun auch zu diskreditieren; Ich muss gestehen, dass ich den Lassahn-Artikel in der sonst tatsächlich nicht lesbaren, bzw. grenzdebilen Achgut größtenteils auch nicht schlecht finde. Zumindest sind dort viele Passagen zu finden, die m.e. den Nagel auf den Kopf treffen. Ich zitiere gerne:

        “Die Sexismus-Debatte wird angezettelt von Leuten, die selber Sexisten sind, bei denen die geschlechtliche Zugehörigkeit im Mittelpunkt ihrer Selbst- und Fremdbilder steht und die ihr Geschlecht für das bessere halten. Sie können sich nicht vorstellen, dass andere Leute NICHT sexistisch denken. Deshalb wird uns die Debatte auch erhalten bleiben und noch weitere Blüten hervorbringen.” In der Tat, dieser Eindruck drängt mir sich auch schon seit geraumer Zeit auf.

        “Das Heimtückische an dem „#Aufschrei“ ist, dass uns eine „bunte Mischung“ aus Banalitäten und strafbaren Handlungen aufgetischt wird und die aufschreienden Frauen nicht unterscheiden wollen – oder nicht können.”

        “Natürlich habe ich mitgekriegt, dass sich der Feminismus entwickelt hat und dass Alice Schwarzer mega-out ist. Frauen von heute, heißt es, fühlen sich von ihr schon lange nicht mehr vertreten. Aber wohin hat er sich entwickelt? Die neue Generation – vertreten durch Schlampenparaden, Quotenfrauen, schreiende Frauen, oder barbusige ‚Femen’, die am Eingang der Herbertstr. in St. Pauli den Spruch „Arbeit macht frei“ hinterlassen – weist dummerweise denselben harten Kern auf, der schon bei ihrer Vorkämpferin zu erkennen war, als sie aus Judenwitzen Männerwitze machte.” Ich kann die Aversion des Autors nachvollziehen. Auch mich stößt dieser fundamentalistische Radikalfeminismus ab, dieses Schwarz-Weiß-Strickmuster, dieser Zeitgeist, in der Männerverachtung fast zum guten Ton gehört.

        Auch das ist interessant, wenn auch vom Autor zitiert: “Und nun? Hadmut Danisch ist Informatiker. Er sieht die Sache nüchtern, er meint, dass es Sexismus eigentlich gar nicht gibt. Er schreibt:

        „Sexismus ist nicht das Belästigen oder Benachteiligen der Frau, Sexismus ist das MACHEN der Frau. Deshalb gilt es schon als ‚sexistisch’, wenn ein Mann einer Frau die Tür aufhält, in den Mantel hilft oder in den Ausschnitt schielt, weil das Verhaltensweisen seien, die Verhaltensweisen und Rollen ‚konstruieren’ und verfestigen, aus denen die Geschlechter erst hervorgehen. Sexismus ist damit jede beliebige Verhaltensweise, bei der man Männer und Frauen unterschiedlich behandeln würde …“”

        “Leider ist der Blödsinn nicht harmlos. Denn mit der Erfindung des „Sexismus“ wurde ein neuer Straftatbestand für Männer geschaffen. Noch eine Zwischenbemerkung: Ich will Herrn Brüderle nicht verteidigen, meine Sympathie für die FDP hält sich in überschaubaren Grenzen, aber was hier für ein Beschuldigungswütigkeit abgeht, lässt mich frösteln. Kläger spielen sich mit der explosiven, „bunten Mischung“ zugleich als Richter auf, und die „Richter-Skala“ ihrer Vorwürfe ist „nach unten offen“.” Wohl wahr…

        Sicher hat der Artikel auch seine längen, und über Männerwitzen sollte “Mann” genauso stehen können wie Frau über “Frauenwitze”. Also mag der Autor an einigen Stellen über das Ziel hinausschießen. Die Grundintention des Autors muss ich aber – die Feminismus- und Genderkultur, Frauenbeauftragte etc haben das ihre dazu beigetragen – leider teilen, intuitiv…

        • Reyes Carrillo sagt:

          Darum geht’s mir überhaupt nicht. Wo hatte ich geschrieben, dass der Mann Unrecht hat? Ich hatte eher geschrieben, dass ich z.B. genau so contra Quote bin.
          Ich fand den Rassismus-Vergleich absolut irre, auf den du überhaupt nicht eingehst. Da zitiert der Mann ausgerechnet Albert Memmi, auf den sich Typen wie Sarkozy (als Innenminister und als Premier) in seiner skandalösen Ausländer- und Einwanderungspolitik immer wieder berufen hat. Wahrscheinlich sind solche Passagen die Eintrittskarte, um bei H&M schreiben zu dürfen. Widerlich.
          Nein, mir ist dieses Geschreibsel viel zu obsessiv, viel zu dick aufgetragen, viel zu pseudoernst, so dass irgendwie der Eindruck aufkommt, dass Mann geradezu zutiefst emotional angefasst zu sein scheint von dieser Debatte. Das hat so was (G)Eiferndes, ja irgendwie auch Alice-Schwarzeriges, so was dem Anlass entsprechend völlig Überzogenes und Über-Engagiertes. Ich finde diesen Betroffenheitsduktus, diese warnende Tonlage einfach schrecklich schräg und hilflos! Und frau denkt sich: Mein Gott muss da jemand Angst haben. Ich kenne keine einzige Frau in meinem großen (linken) Bekanntenkreis, die so leidenschaftlich und emotional über dieses Thema diskutiert – obwohl sie inhaltlich, wie ich ja auch, völlig “eurer” Meinung sind. Ich denke, es ist schon zu konstatieren, dass “ihr” Männer einfach seltsam angefasst wirkt und auf für meinen Geschmack viel zu hohen Touren lauft bei diesem Thema. Mein Gott, was hatte der Mainstream schon alles für Säue durchs Dorf getrieben – und nirgends wurde in der männlichen Linken so auffällig hitzig debattiert wie bei dieser Sexismus-Geschichte. Es ist halt wirklich auffällig – und, darauf bestehe ich, zu einem Gutstück jenseits der rationalen Ebene angesiedelt.
          Was wirklich Angst machen kann und wichtig ist, hattest du in deinem Artikel beschrieben! Darum geht es doch. Und bitte: Fahrt halt die Drehzahl etwas runter, das ist alles ein Ticken zu laut. Es klingt stellenweise wirklich nur noch wie ein einziger #Aufschrei!

        • Monika P. sagt:

          Ich möchte mich der Kritik von Reyes Carrillo anschließen und noch etwas hinzufügen. Wie sie bin ich aber, das will ich voranstellen, bis auf vernachlässigbare Unterschiede auch der in diesem Blog vertretenen Meinung zu den Themen Quote und Sexismus. Der Artikel von Günter Buchholz und dieser von Ihnen, Herr Sebastian Müller, und auch, was Sie beide in der Diskussion mit der Userin Marie vorgebracht hatten, findet überwiegend meine Zustimmung. Aber nicht, was den verlinkten Artikel von Bernhard Lassahn angeht.
          Ich bin zuvorderst verblüfft über Ihre nicht erwartete Naivität, was das Blog ‘Achse des Guten’ angeht. In diesem Blog wird man nicht einfach mal so Autor. Da muss man schon ein paar Voraussetzungen mitbringen. Und deshalb ist es eben nicht egal oder nur am Rande ein kleiner Schönheitsfleck, dass der Artikel gerade dort erschienen ist. Reyes Carrillo hatte richtigerweise schon auf den Rassismusbegriff von Albert Memmi hingewiesen, den der Autor bemüht. Aber das reicht bei Weitem nicht, denn Benhard Lassahn nennt als Komparationswert den Begriff Rassismus unglaubliche 11 Male in seinem Artikel!
          Dann wird einfach mal so zur Seite gewischt, in welchen Bonbonfarben die Person Brüdere gemalt wird. Man mag zwar die FDP nicht sonderlich, aber egal, Hauptsache es werden die eigenen Argumente untermauert. Dass Brüderle selbstverständlich ein gefürchteter, weinseliger Grapscher, ganz jenseits von der Himmelreich-Geschichte ist, wird, wie seine schmierige Reinwaschung und Seligsprechung einfach hingenommen. Dann wird Heiner Geisslers Attack-Mitgliedschaft von Lassahn auch eben mal diffamiert, aber das geht dann auch in Ordnung bei Ihnen.
          Ich finde das alles in allem ein bisschen zu viele, weil auch faule Kompromisse für einen linken Blog, nur für das Eimerchen Wasser aus der ‘Achse des Guten’, das Herr Lassahn auf Ihre argumentativen Mühlen gießt. Denn auch da stimme ich Reyes Carrillo zu, dass mir diese ganze Debatte, wie sie auch hier in diesem Blog geführt wird, viel zu aufgeladen, bierernst und stellenweise sogar richtig blind ist. Beifall aus der falschen Ecke, also in dem Fall Beifall für die falsche Ecke könnte man das abgewandelt auch nennen.

  3. maguscarolus sagt:

    Ist es abwegig, zu argwöhnen, dass die Merkelsche Politik, den antidemokratischen EU-Strukturen mehr und mehr an Bedeutung und Kompetenz zu überlassen, nichts anderes bedeuten könnte, als dass Madame la chancellière dort Karrierechancen für ihre eigene Zukunft sieht – als erste EU-Diktatorin?

  4. Günter Buchholz sagt:

    An. R.C. und M.P.:

    1. Ich möchte doch darum bitten, meine Verlinkung nicht über die Maße zu strapazieren. Der Artikel von B. Lassahn ist m. E. in mancher Hinsicht erhellend, worauf Sebastin Müller in dankenswerter Weise hingewiesen hat, und deshalb habe ich auf diesen Artikel referenziert, aber er steht selbstverständlich nicht außerhalb der Kritik, und ich identifiziere mich weder mit dem gesamten Artikel noch gar mit jedem Satz oder Wort. Das kann bei einer Verlinkung sowieso nie der Fall sein.
    Wenn Sie bei Lassahn etwas im Detail kritisieren wollen, gut, dann wenden Sie sich bitte an den Autor. Lesenswert ist der Artikel m. E. dennoch, ob sie den Autor nun mögen oder nicht.

    2. Ich weise immer wieder darauf hin, dass es bei A r g u m e n t e n allein auf die logische Struktur und die empirische Evidenz ankommt. Mit anderen Worten: es kommt n i c h t darauf an, w e r ein Argument vorbringt, sondern ob es inhaltlich begründet, ob es also richtig oder falsch ist. Das ist zu prüfen, und das sind die Maßstäbe. W e n n (z. B. Lassahn) logisch und empirisch gesehen schlüssig argumentiert, dann ist seine Argumentation gerechtfertigt, wenn nicht, dann eben nicht, dann ist sie gescheitert. Genau das wäre es, was jeweils nachzuweisen wäre.

    3. Ich kann zwar nachvollziehen, dass Ihnen die Plattform, auf der Lassahns Artikel erschienen ist, nicht gefällt. Nur: darauf kommt es eben nicht an. Denn sonst machen wir den Fehler, nicht auf das zu achten, w a s gesagt wird, sondern auf das, v o n
    w e m und w o es gesagt worden ist. Wer das macht, u m g e h t aber das jeweilige Argument statt sich mit ihm auseinander zu setzen. Eine solche Umgehung führt aber
    n i e m a l s zu einer Widerlegung, sondern lediglich zu einer irrationalen, meist polemischen Zurückweisung, die intellektuell irrelevant ist und bleibt.

    Beispiel: ich bin weder katholisch noch überhaupt religiös, aber ich schließe deswegen überhaupt nicht aus, dass z. B. der Papst in einer bestimmten Frage eine überzeugend begründete Auffassung vertreten k a n n (nicht muß), und die deshalb – in einem solchen hier unterstellten Fall – auch für mich relevant ist. Nicht weil das Argument vom Papst (oder: von X) kommt, sondern weil es geprüft und als zutreffend befunden worden ist. Oder: Eine Äußerung von Alice Schwarzer z. B. ist niemals deshalb falsch (oder wahr), weil sie von Alice Schwarzer kommt oder in der EMMA abgedruckt war.

    4. Es geht im Kern darum, ob sich bestimmte Aussagen logischer oder empirischer Art beweisen lassen. W e n n sie bewiesen sind, dann sind sie g ü l t i g. Das ist alles.
    Nun ist das bei einem Essay nicht ganz so einfach, weil die innere Logik erst einmal herausgeschält und geprüft werden muß, aber die Mühe muß man sich eben genauso machen wie die Kontrolle bzw. Prüfung der empirischen Aussagen; z. B. einer zitierten Statistik, die z. B. auch gefälscht sein kann.

    • Reyes Carrillo sagt:

      Lieber Herr Buchholz!

      Beim Lesen Ihrer Replik musste ich mich denn doch einige Male fragen: “Hält der mich jetzt für komplett blöd?” oder ist diese wiederholte zähe, sogar numerische Aufzählung (schon in “Contra Quote”) Ihrer gestrengen Kriterien, was Sie als Argument akzeptieren und was nicht, vielleicht ein besonderes, Sie tief beglückendes Ritual? Diese Art der Belehrung via Fallbeispielen vom Pabst bis zu Alice Schwarzer ist in seiner schulmeisterlichen Attitüde eine Mischung zwischen schwer erträglich und überaus erheiternd. Dennoch: Ja, Herr Lehrer, ich hab’s begriffen! Darf ich mich wieder setzen?
      Ich dagegen gönne mir immer wieder mit vollen Sinnen genießend den Luxus meiner stets gut gepflegten Vorurteile, meiner Einseitigkeiten, meiner Polemik, meiner Emotionen, meiner Irrationalitäten, ja, auch meiner hauseigenen Hygienevorschriften usw. usw. – und finde trotzdem in der Regel zielgenau den Punkt, wo es weh tut. Im blutleeren Ganzkörperkondom Ihrer wissenschaftlichen Argumentationsrichtlinien würde ich schnell dehydrieren oder wahlweise ersticken. Verstehen Sie mich nicht miss, ich negiere keineswegs Ihre klinisch sauberen Anforderungen an eine Diskussion, ganz im Gegenteil. Aber bitte: Wir sind hier in einem Blog und nicht im Seminar! Und ohne griffbereiten Salzstreuer und Pfeffermühle würde ich doch gar nicht erst kommentieren wollen. Übrigens fand ich Ihren Kommentar, auf den ich reagiert habe, doch gut, falls Sie das übersehen haben sollten.

      • Günter Buchholz sagt:

        Nein, das habe ich nicht übersehen; danke. Mein Kommentar ist jedoch im Grunde allgemein adressiert. Sie sehen mir hoffentlich meine darin zum Vorschein kommende berufliche Prägung nach, ich weiß, dass ich damit gelegentlich “nerven” kann; pardon. Bleiben Sie fröhlich, ich gönne es Ihnen. –
        Ich habe etliche Male die Erfahrung machen müssen, dass ein argumentativer Austausch nicht möglich und frustrierend war, nur weil Grundregeln rationaler Diskussion nicht eingehalten wurden.
        Ich meine damit im wesentlichen die an anderen Stellen beobachtbare Art und Weise von “Diskussionen”. Es kommt dann aufgrund der “Umgehung” der jeweiligen Argumente einfach nichts dabei heraus. Einer meint eben dies, ein anderer das. Na gut, dazu braucht es keinen Austausch, um das zu wissen. Mir geht es allgemein darum, Meinungsäußerungen zu überwinden, die bloß subjektiver Natur sind.
        Mich interessieren hingegen alle Argumente, die beanspruchen können, gültig zu sein, und ganz besonders, wenn sie neu sind. In der Hoffnung auf eine produktive Diskussion bemühe ich mich um diese, auch in diesem Blog.

        • Reyes Carrillo sagt:

          Wer wollte Ihnen widersprechen? Ich verstehe Sie jedenfalls besser, als ich den Eindruck vermittle. Glauben Sie es mir bitte.
          In einem Punkt möchte ich Ihnen aber doch noch dies zu bedenken geben: Unterschätzen Sie nicht die subjektive Meinungsäußerung zugunsten einer einseitig favorisierten “objektiven” Argumentation. In der – reflektierten – Subjektivität wohnen oft eine eigene Kraft und Glaubwürdigkeit. Um die Dinge wirklich tief zu verstehen, kommen wir ohne sie nicht aus.
          Und nun, da Sie mir offiziell meine Fröhlichkeit gönnen, haben Sie gleich eine neue Freundin gewonnen. Ob Sie sie nun haben wollen oder nicht.

  5. DWR sagt:

    Die EU als supranationale und damit de facto die Nationalparlamente entmachtende Institution hat ihren einzigen Zweck – das kann man immer schön an den Sonntagsreden ablesen, in denen davon gerade NICHT gesprochen wird – in der Optimierung der Profitmaximierung in der Euro-Zone, die damit zum weltökonomischen Konkurrentin der USA aufgerüstet werden soll. Mit diesem Ziel ist die Unvereinbarkeit der politischen und ökonomische Mittel mit den “Interessen der Bürger” schon vorab festgelegt. Und diese Festlegung wiederum macht die eine oder andere Zensur und Repression notwendig. In Griechenland werden inzwischen Streiks unter Haftandrohung beendet, während die neofaschistischen Schlägertruppen der “Goldenen Morgenröte”, polizeilich nahezu unbehelligt, für den Notfall eines “Bürgerkriegs gegen Anarchisten” (so ihr Parteichef) in Reserve gehalten werden.

    Fazit? Der Kapitalismus in seiner “freien” Entwicklung von Krise zu Krise reißt alles an sich, was nötig ist, um seinen Mehrwert zu sichern, und zerstört zu diesem Zweck auch jede liberal-demokratische Errungenschaft ohne institutionelle oder gar moralische Grenze – so lange die Betroffenen sich nicht massenhaft gegen ihn wehren.

    Und wo sollte diese Gegenwehr herkommen? Aber das ist ein zu trübes Feld…

  6. Günter Buchholz sagt:

    an R. C.: :-)

    an DWR: “Es gibt nicht Gutes, außer man tut es!” Erich Kästner

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