Liberalismus und Keynesianismus

Zur größten Finanz- und Wirtschaftskrise seit achtzig Jahren

Von Heinz-J. Bontrup

In Politik, Wirtschaft und der Mainstream-Wirtschaftswissenschaft wird die größte weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise seit achtzig Jahren hauptsächlich den deregulierten Finanzmärkten und dem Fehlverhalten von Individuen im Finanz- und Bankensektor zugeschrieben. Manche sehen die Ursache auch in einer zu lockeren (expansiven) Geldpolitik in den USA nach dem Zusammenbruch der New Economy im Jahr 2000 und dem US- amerikanischen Doppeldefizit im Staatshaushalt und der Leistungsbilanz.

Solche Erklärungen greifen zu kurz. Die originäre Krisenursache ist eine ganz andere. Ihre Wurzeln sind im seit Mitte der 1970er Jahre vollzogenen wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsel hin zu einem neoliberalen Regime zu finden, das Markt und Wettbewerb als Regulierungsmechanismen gesellschaftlicher Entwicklungs- und Entscheidungsprozesse verabsolutiert und die Welt privatisieren will.[1]

1. Vom Liberalismus zum Keynesianismus

Der Paradigmenwechsel ist, dogmentheoretisch betrachtet, ein Rückfall in die Lehre des ökonomischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts, auch als „Manchesterkapitalismus“ bekannt, der mit dem Börsenkrach von 1929 und dem 2. Weltkrieg endgültig sein Ende gefunden zu haben schien. Die Liberalen hatten damals noch zur Krisenbekämpfung in fataler Weise auf die „Selbstheilungskräfte der Märkte“ und eine aggressive Außenwirtschaftspolitik gesetzt. Bei Arbeitslosigkeit müssten die Löhne der Beschäftigten nur sinken und staatliche Unterstützungsleistungen für Arbeitslose abgebaut werden. Der Staat müsse durch eine ausgeglichene Budgetpolitik seine Ausgaben den sinkenden Steuereinnahmen anpassen („Austeritätspolitik“); die heimische Wirtschaft solle möglichst viel exportieren und gleichzeitig durch protektionistische Maßnahmen mit Einfuhrzöllen und Abwertungen der eigenen Währung eine
Sparpolitik auf Kosten des Auslands betreiben („beggar-my-neighbour-policy“).

Während die damalige europäische Politik-Elite uneingeschränkt dieser liberalen Wirtschaftstheorie folgte (auch der deutsche Reichskanzler Heinrich Brüning, 1885-1970), war es zumindest ab 1932 der US-amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt (1882-1945), der mit seinem New Deal auf eine aktive staatliche Rolle zur Überwindung der globalen Depression von 1929-1933 setzte. Er nahm damit, ganz pragmatisch und intuitiv, die erst 1936 von John Maynard Keynes (1883-1946) gelieferte neue „General Theory“ vorweg.[2] Zumindest den „bastard-keynesianischen“ Teil in Form eines staatlichen Deficit spendings, wie Joan Violet Robinson (1903-1983), langjährige Wegbegleiterin von Keynes, die theoretische Reduzierung von Keynes auf eine antizyklische kreditfinanzierte staatliche Ausgabenpolitik nannte.

Keynes’ umfassendes Theoriengebäude beinhaltet aber viel mehr. Es ist eine umfassende Kapitalismuskritik mit dem Ziel, den Kapitalismus vor sich selbst zu retten.[3] Das höchste Ziel für Keynes ist eine vollbeschäftigte Wirtschaft. Um dies trotz tendenziell rückläufigen Wachstums bzw. einer endogen bedingten Wachstumsabschwächung in hoch entwickelten Industriestaaten4 zu erreichen, muss die Wirtschaftspolitik die gesamtwirtschaftlichen (kreislauftheoretischen) Zusammenhänge und die Interdependenzen der Wirtschaftssektoren berücksichtigen. Löhne sind eben nicht nur Arbeitskosten, sondern gleichzeitig auch Einkommen. Lohnsenkungen sind daher Gift für die Krisenbekämpfung.

Arbeitslosigkeit kann auf Grund des Doppelcharakters von Arbeitskosten nicht durch eine Senkung des Preises der Ware Arbeitskraft immanent an den Arbeitsmärkten aufgehoben werden, sondern nur durch eine Stärkung der gesamtwirtschaftlichen effektiven Nachfrage und/oder durch Arbeitszeitverkürzungen. Keynes empfahl diese dringend, weil langfristig eine Wachstumspolitik zum Scheitern verurteilt ist. Wichtig war für Keynes auch eine gleichmäßigere Einkommens- und Vermögensverteilung, die für einen höheren Massenkonsum und damit gleichzeitig für eine bessere (qualitative) Befriedigung der Konsumbedürfnisse sorgt. Heute wird dagegen „Ramschware“, häufig unter erbärmlichsten Arbeitsbedingungen (nicht nur im Ausland) produziert und über Discounter abgesetzt, damit sich viele Menschen mit niedrigsten Einkommen überhaupt noch eine – aber eine qualitativ schlechte – Bedürfnisbefriedigung erlauben können.

Und wenn der Staat einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen soll, wie dies Liberale und Neoliberale fordern, so muss der Unternehmenssektor und/oder das Ausland, so Keynes, den Vermögensüberschuss, das Sparen der privaten
Haushalte, in Form von Investitionskrediten abschöpfen. Passiert dies nicht, kommt es zu einer Wirtschaftskrise.

Keynes forderte auch, den für das kapitalistische System ökonomisch letztlich kontraproduktiven und politisch gefährlichen Gegensatz von privatem Reichtum auf der einen und privater sowie öffentlicher Armut auf der anderen Seite durch ein adäquates Steuersystem zur Finanzierung einer höheren Staatsquote, durch vermehrt bereitgestellte
öffentliche Güter und durch eine „Sozialisierung der Investitionen“ aufzuheben. Besonders im Kontext der aktuellen Finanzmarktkrise ist Keynes’ Warnen vor einer überbordenden Spekulation zu betonen. „Spekulanten“, so führte er aus, „mögen als Luftblasen auf einem steten Strom des Unternehmertums keinen Schaden anrichten. Aber die Lage wird ernst, wenn das Unternehmertum die Luftblase auf einem Strudel der Spekulation wird. Wenn die Kapitalentwicklung eines Landes das Nebenerzeugnis der Tätigkeiten eines Spielkasinos wird, wird die Arbeit voraussichtlich schlecht getan werden.“[5]

Finanzmärkte müssen deshalb, so seine Botschaft, strikt staatlich reguliert werden. Das unternehmerische Gewinnstreben ist zur Eindämmung der Finanzmärkte auf realwirtschaftliche Produktionsprozesse zu lenken. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das keynesianische Gebäude in den wichtigen und großen Industriestaaten zur vorherrschenden Lehre und wirtschaftspolitischen Doktrin. Der US-amerikanische Präsident Richard Nixon (1913-1994) betonte noch 1971: „Jetzt sind wir alle Keynesianer geworden“. Der Staat spielte zumindest eine „bastard-keynesianische“ Rolle. Es kam zu einer aktiven Konjunktur-, Wachstums-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik.

Angestrebt wurde ein „Mix“ aus Markt und Staat; speziell in der Bundesrepublik eine „Soziale Marktwirtschaft“. Die Verteilung der generierten Wertschöpfungen zwischen Kapital und Arbeit wurden anfangs sogar zu Gunsten des „Faktors“ Arbeit mit steigenden Lohnquoten, danach zumindest verteilungsneutral ausgerichtet. Die Finanzmärkte waren reguliert, die Notenbanken hielten die Zinssätze unter der Wachstumsrate des Sozialprodukts, die Wechselkurse
waren fixiert, große außenwirtschaftliche Ungleichgewichte blieben aus, die Börsen und damit Aktien spielten keine herausragende Rolle. Ganz entscheidend war, dass sich das Gewinnstreben nur in der produzierenden Realwirtschaft entfalten konnte. „Politökonomisch handelte es sich um ein Interessenbündnis von Realkapital und Arbeit, das gegen die Interessen des Finanzkapitals gerichtet war.“[6] Weiter…

Verwandte Artikel:

– Die Mainstream-Ökonomie …und ihr Versagen in der Finanz- und Wirtschaftskrise


[1] Zur Kritik an der neoliberalen Wettbewerbsgläubigkeit vergleiche ausführlich: Bontrup, Heinz-J., Wettbewerb
und Markt sind zu wenig, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 13/2007, 26. März, S. 25- 31; Lepsius, Oliver, Über Märkte, Wettbewerb und Gemeinwohl – Plädoyer für einen Paradigmenwechsel, in: Adolf-Arndt-Kreis (Hrsg.), Staat in der Krise – Krise des Staates? Die Wiederentdeckung des Staates, Berlin 2010, S. 25- 48.

[2] Vgl. Keynes, John Maynard, The General Theory of Employment Interest and Money, London 1936, in deutscher Übersetzung: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, übersetzt von Fritz Waeger, verbessert und um eine Erläuterung des Aufbaus ergänzt von Jürgen Kromphardt und Stephanie Schneider, 11. Aufl age, Berlin 2009.

[3] Vgl. Bontrup, Heinz-J., Keynes wollte den Kapitalismus retten. Zum 60. Todestag von Sir John Maynard Keynes, in: Internationale Politikanalyse der Friedrich Ebert Stiftung, Bonn, September 2006.

[4] Vgl. Zinn, Karl Georg, Sättigung oder zwei Grenzen des Wachstums, in: Le Monde diplomatique, Juli 2009, S. 10-11.

[5] Keynes, John Maynard, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, a.a.O., S. 135.

[6] Schulmeister, Stephan, New Deal für Europa, in: Le Monde diplomatique, September 2010, S. 3.

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5 Kommentare zu "Liberalismus und Keynesianismus"

  1. bhayes sagt:

    Keynes wirre Ideen, die schon VOR erscheinen seines Buches widerlegt wurden (siehe z.B. Ludwig von Mises: „Theorie des Geldes und der Umlaufsmittel“, Duncker & Humblot Verlag 2005; ursprüngliches Erscheinungsdatum der 2. Auflage 1924) werden von Parteibonzen seit Jahrzehnten verwendet, um ständig hemmungslos mehr Geld auszugeben als da ist; die Differenz wird durch Kredite gedeckt, die ihrerseits aufgrund des Gelddruckens zu einer massiven Geldentwertung zulasten der Bevölkerungsmehrheit führen.
    Alle Details dazu unter: http://www.nein-zur-transferunion-fuer-stabiles-geld.de/wp-content/uploads/2011/03/UK.pdf

  2. Sorry, aber das ist einfach nur Quatsch! Keynes Ideen als wirr abzustempeln, um dann auf einen einen Vordenker der Neoliberalen aus der österreichischen Schule hinzuweisen, zeigt, wessen Geistes Kind man ist!

  3. bhayes sagt:

    @Sebastian Müller: Ja, das zeigt in der Tat, wie fähig man ist. Von Mises Analysen sind noch nie widerlegt worden, die von Keynes (jedenfalls in der praktischen Umsetzung) dagegen täglich.

  4. was??? wo wird denn keynes lehre täglich umgesetzt? vielleicht ein bastard-keynesianismus, also versatzstücke seiner lehren, die aber isoliert und so aus dem kontext gerissen nicht funktionieren.

    was sich jetzt schon seit mehr als 30 jahren tagtäglich selbst diskreditiert, sind die neoliberalen privatisierungs- und austeritätsprogramme! seit den 70er jahren wird der keynesianismus doch kaum mehr angewandt. davor hat er jedoch für eine noch nie dagewesene ära des wohlstands gesorgt!

  5. bhayes sagt:

    @Sebastian Müller: Sie haben Recht, wenn man Keynes so versteht, dass ein Staat (was ich vorschlage) ständig ein leichtes Budgetplus von sagen wir 3% haben soll, welches angespart wird, um auf diesen Spartopf in Zeiten geringerer Einnahmen zugreifen zu können, dann bin ich sofort dafür zu haben.
    In der Praxis passiert aber folgendes: Die Politiker berufen sich auf Keynes, um ein rein kreditfinanziertes Ausgabenprogramm zu “begründen”, hierdurch kommt es zu riesigen Staatsdefiziten. Dagegen wende ich mich.
    Diese eher haushaltstechnische Fragestellung wird überlagert von einer wirtschaftspolitischen, nämlich die Frage, ob man durch staatliche Ausgaben, die nicht produktive Infrastruktur und Bildungsausgaben etc. betreffen, sondern eher Subventionen sind oder Konsum fördern, mittel- und langfristig besser fährt als durch eine generell sinnvolle Wirtschaftspolitik a la Hayek & Co. Hier zeigt die Erfahrung, dass Mises, Hayek etc. Recht haben, während alle Ansätze, die darauf beruhen, dass inkompetente Politiker mehr oder minder planlos Gelder verteilen, zu weniger Wohlstand führen.

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