Spätrömische Dekadenz

Mediale Demontage des Sozialstaates

Von Sebastian Müller

Anscheinend war Giudo Westerwelles puplizistische Attacke auf den bereits von Agenda 2010- und Hartz IV-Reformen zerstückelten deutschen Sozialstaat doch nicht so unüberlegt und reflexhaft, wie man nach den anfänglichen Echos auf seine Entgleisungen in der “Welt” fast meinen könnte.

Das, was da Westerwelle in seinem grenzenlosen Zynismus als spätrömische Dekadenz geißelte, nämlich das auf Solidarität beruhende Überbleibsel eines Gesellschaftsvertrages, droht nun das Opfer des sich wendenden Blattes in der medialen Schlacht zwischen Befürwortern und Gegnern der sozialen Verantwortung zu werden. Der sich bereits seit einer Dekade in Erosion befindende Wohlfahrtsstaat wird nun in den Feuilletons, Wirtschafts- und Politikseiten der einschlägigen Zeitungen und Zeitschriften vollends aufgekündigt.

Westerwelles schrille Attacke im Zuge sinkender Umfragewerte war lediglich der willkommene und inszenierte Ursprung, nicht aber die Ursache der neuerlichen Forderung nach einem neuen Um- bzw. Abbau des deutschen Sozialsystems. Die Ursache war das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, dass die willkürliche Festlegung der Hartz IV-Regelsätze in Frage stellte und eine Überarbeitung verlangte. Dass das Bundesverfassungsgericht die Regelsätze zwar für unangemessen betrachtete, aber nicht wörtlich von einer Erhöhung sprach, eröffnet dies nun in den Augen der Profiteure des Marktfundamentalismus einen Definitions- und Diskursspielraum über das grundsätzliche Ausmaß des Sozialstaates.

Die Westerwelles, die Apologeten des Neoliberalismus, die Nutznießer einer immer krasseren Umverteilung von Unten nach Oben, diejenigen, die an einer der zentralen Säulen der Verfassung (nämlich des Sozialstaatgebotes Art. 20 GG und Art. 79 Abs. 3 GG (Ewigkeitsklausel)) rütteln, bedienen sich hierfür einer besonders perfiden Strategie: Das Aufstacheln der Schwachen gegen die Schwächsten.

Nachdem in unserem gesellschaftlichen Diskurs die Skandalisierung der Armut bereits zur Skandalisierung der Armen geworden ist – eben zuletzt wieder bewiesen durch Westerwelle selbst – versucht sich die FDP nun zu den Beschützern der Geringverdiender zu stilisieren. “Arbeit muss sich wieder lohnen”, denn es kann nicht sein, dass ein Hartz IV-Empfänger mehr erhält, als jemand, der z.B. als Zeitarbeiter unter Tariflöhnen schuften muss, so propagiert es die FDP unablässig.

Auch wenn diese Behauptung überhaupt nicht stimmt: Anstatt aber den von diesem Paradoxon betroffenen Arbeitnehmern Mindestlöhne zuzugestehen, um ein angemessenes Lohnabstandsgebot wieder herzustellen und beiden Gruppen ein ausreichendes, menschenwürdiges Auskommen zu sichern, redet die FDP gar von einer Verminderung des Arbeitslosengeldes. Damit verhöhnt diese Partei nicht nur die steigende Anzahl derjenigen, die unter prekären Beschäftigungsverhältnissen leiden, sondern versucht diese auch noch auf die Arbeitslosen zu hetzen. Kein Wort davon, dass der Staat durch die Durchsetzung von Mindestlöhnen ebenso im Sozialetat sparen könnte, da er die gängigen Hungerlöhne nicht durch Hartz IV-Bezüge aufstocken müsste. Kein Wort davon, dass der Staat damit die Löhne im Sinne der Unternehmen, die sich immer mehr aus ihrer sozialen Verantwortung zu schleichen wissen, mitzahlt.

Nachdem einige aufrechte Journalisten nach Westerwelles Tiraden eben diese als Farce und Gefahr für den ohnehin schon brüchigen, sozialen Frieden enttarnt hatten, bringt sich nun die gesamte Medienmacht der Neoliberalen und Marktfundamentalen sowie ihrer Public-Relations-Agenturen in Stellung. Immer mehr werden Zeitungen und Zeitschriften von Meinungsmache überschwemmt, die das Ziel haben, den wohlfahrtsstaatlichen Konsens auszuhöhlen. Bezeichnend ist hierbei u.a. der folgende Welt Online Artikel: Die Sozialstaatsdebatte hat sich gedreht.

Diejenigen Kräfte und Interessensgemeinschaften, die nicht zuletzt auch für die Finanzkrise verantwortlich waren, haben wieder Morgenluft gewittert. Dass der Verteilungsstaat und damit die institutionell gewährleistete Verteilung von Vermögen weiter derart entschieden bekämpft wird, zeigt, was aus der Finanzkrise gelernt wurde: Nichts! Die Zockerei in den Casinos geht weiter, die Vermögen werden verspekuliert statt besteuert, die Unternehmen und Wohlhabenden aus ihrer Verantwortung genommen – auch das ein Bruch mit den Artikeln des Grundgesetzes (Art. 14, Abs. 2: Eigentum verpflichtet) – und die sozial Schwachen immer mehr geschröpft. Die anscheinend politisch gewollte Schieflage unserer Gesellschaft wird weiter forciert. Westerwelle ist dabei nur die Spitze des Eisberges.

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