Was sagen eigentlich die Taliban?

Von David Noack

Wenn wieder diskutiert wird, ob Deutschland seine Truppen aus Afghanistan abziehen soll, heißt es immer, dass die grausamen Taliban zurückkehren würden. Sie hätten ein archaisches Weltbild, würden Frauen unterdrücken, wieder öffentliche Hinrichtungen einführen und Afghanistan ins Mittelalter stürzen.

Gewiss war die Zeit der Herrschaft der Religionsgelehrten aus den pakistanischen Schulen grausam. So wurden Massaker an den schiitischen Hazara verübt, musikhörende Taxifahrer wurden öffentlich verprügelt und Mädchen durften nicht zur Schule gehen. Das sind unhaltbare Zustände. Doch im Jahr 2001 änderte sich alles: Das “Emirat Afghanistan” schloss Frieden mit Gulbuddin Hekmatyar und die Nordallianz vertrieb die radikalen Sunniten aus der Hauptstadt Kabul und den anderen großen Städten. Damals war der Journalist Christoph Hörstel in Kabul und Taliban-Größen haben ihn gefragt, was sie falsch gemacht hätten. Er zählte alles auf, von den Mädchenschulen bis hin zu Steinigungen.

Nun sind achteinhalb Jahre vergangen und die Taliban sind wieder da. In Kandahar ist ihnen ein beispielloser Coup gelungen, als sie das Gefängnis der Stadt eroberten und alle Insassen befreiten. Jüngst erklärte das „Emirat“, wie sie sich immer noch nennen, dass Kabul eingekesselt sei. Düstere Aussichten, hatte Peter Scholl-Latour doch in seinem Roman “Weltmacht im Treibsand” die erstaunlichen geographischen Parallelen von Dien Bien Phu und der afghanischen Hauptstadt deutlich gemacht. In Dien Bien Phu hatten die Viet Minh, die vietnamesische Widerstandsorganisation unter Ho Chi Minh, den französischen Besatzern eine vernichtende Niederlage abgerungen.

Das bedeutet, dass Afghanistan vor einer düsteren Zukunft steht? Aber was sagen die Taliban eigentlich zu den Menschenfresser-Vorwürfen?

Christoph Hörstel machte sich auf in das Land an den Hindukusch und befragte Mullah Abdulsalam Zaeef. Dieser ist “Botschafter des Emirats Afghanistan” in Kabul. Das Gespräch brachte erstaunliche Ergebnisse. Die Taliban würden die Regierung Karzai für eine Übergangsperiode von sechs Monaten anerkennen. Zuerst müssten die USA, dann Großbrittannien, in einer dritten Phase die anderen Staaten des Commonwealth (Kanada und Australien) und zuletzt alle anderen ausländischen Nationen aus Afghanistan abziehen. Die Taliban streben keine direkte Regierung in dem mittelasiatischen Land mehr an. Flüchtlinge sollten zurückkehren, ausländische Botschaften ihr Personal reduzieren und den Taliban sollen Garantien gegeben werden, dass ihnen während der Übergangsphase nichts angetan wird. Islamisches Recht würde wieder eingeführt, aber Mädchenschulen sollen nicht verboten werden. Auch solle das öffentliche Musik hören und das Ausbleiben eines Bartes bei Männern soll nicht unter Strafe stehen. Die Regierung soll lediglich “islamischer Führung” unterstehen – was sich durchaus nach dem iranischen System anhört. Auch wenn die sunnitischen Extremisten nicht zugeben würden, das ihr Idealsystem dem des schiitischen Nachbarns ähnelt – Hekmatyars Islampartei hat Hörstel Disengagement Plan zugestimmt. Der sieht eine Abzugsfrist von 12 Monaten vor.

Die Nationale Front, welche auch eine wichtige Opposition bildet, ging aus der Nordallianz hervor. Da eben jene Nordallianz das westliche Engagement mittrug, kann man davon ausgehen, dass sie das auch weiter tun werden. Die Karzai-Regierung selbst dürfte wissen, dass sie sich ohne ausländische Unterstützung nicht lange halten würde – schließlich kontrolliert sie kaum ein Zehntel des Landes. Würde man alle an einen Tisch bringen und ehrlich miteinander verhandeln lassen, dann könnte laut Hörstel eine realistische Zukunftsoption ausgehandelt werden. So könnte das Land am Hindukusch in regionale Friedensmechanismen eingebunden werden.

Die Schanghai-Kooperationsorganisation (China, Russland und vier zentralasiatische Staaten) betreiben bereits eine Anti-Drogen-Operation, die auch effektiv auf die Nordregion Afghanistans ausgedehnt werden könnte. Die Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (ein Bündnis Moskau-freundlicher GUS-Staaten und Russlands) führt eine Operation mit dem Namen “Kanal” zur Grenzsicherung an der afghanisch-tadschikischen Grenze auf tadschikischer Seite durch. Diese Operation könnte ebenfalls auf die Nordregion ausgedehnt werden. Seit 2003 konnten in diesem Rahmen über 75 Tonnen von Rauschgiftmitteln beschlagnahmt werden.

Die angrenzende Islamische Republik Iran hatte bereits 2001 angeboten, afghanische Polizisten auszubilden und auszurüsten, was abgelehnt wurde. Stattdessen finanziert die EU eine eigene Polizeimission – mit Beteiligung der deutschen Polizei. Doch auf dieses Angebot Teherans sollte eingegangen werden. Desweiteren könnte der Iran auch in seinen angrenzenden Regionen den Drogenhandel bekämpfen – die Islamische Republik Teherans ist der weltweit größte Opiumschmuggelbekämpfer.

Wenn eine umfassende Friedenskonferenz dies wünschen würde, könnte durchaus auch eine im Land anerkannte Macht, wie die Arabische Liga oder die Organisation der Islamischen Konferenz eine nur zur Selbstverteidigung bewaffnete Beobachter- und/oder Stabilisierungstruppe in dem Land stationieren. Die Präsenz der Armeen Jordaniens und der Vereinigten Arabischen Emirate am Hindukusch haben bewiesen, dass muslimische Soldaten allgemein nicht als Feinde der einheimischen Bevölkerung angesehen werden. Doch dieses Szenario ist in weiter Ferne.

Doch neben dem sicherheitspolitischen Brennpunkt muss natürlich auch der wohl wesentlichste Aspekt, die wirtschaftliche Zusammenarbeit im Raum stehen. So ist die Regierung Karzai bereits im Jahr 2007 der „Südasiatischen Vereinigung für regionale Kooperation“ beigetreten (weitere Mitglieder sind Indien, Pakistan, Bangladesch, Nepal, Sri Lanka, Bhutan und die Malediven). Eine Integration in die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft (EAWG – weitere Mitglieder sind Kasachstan, Kirgisistan, Russland, Tadschikistan und Weißrussland) könnte auch ins Auge gefasst werden. Wenn man nur in Verhandlungen tritt, dann kann mit Kompromissen das Land zu Frieden und Sicherheit geführt werden. Denn wenn es gelänge, dass sich die Wirtschaft in dem zerrütteten Land einigermaßen erholt, würde in Zukunft auch den Radikalen der Nährboden entzogen werden.

Vor einem halben Jahr boten die Taliban der NATO einen ehrenvollen Rückzug an, doch wie es aussieht ist diese nicht dazu bereit und wartet weiterhin auf ihr Dien Bien Phu, das aufgrund der westlichen Arroganz, nicht mit den eurasisch-arabischen Regionalmächten kooperieren zu wollen, immer wahrscheinlicher wird.
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