Kontroverse

Am 9.3.09 schrieb ein anonymer Leser folgendes Kommentar zu dem im Le Bohémien verfassten Artikel „Mit der Schuldenbremse hat der Neoliberalismus Einzug in das Grundgesetz erhalten“:

Lieber Herr Müller, eine Schuldenbremse ist per se weder neoliberal noch antikonjunkturpolitisch. Sie ist – zumindest nach Schweizer Vorbild – stabilisierend und wirkt mit eingebauten Ausgleichsmechanismen clever antizyklisch. Deswegen kann man die beschlossenen Ergebnisse durchaus kritisieren, weil sie keine intelligenten Steuerungsmechanismen aufweist. Was an überbordender Verschuldung eine “linke Alternative” sein soll, bleibt schleierhaft.
Ich kann in Ihrem Kommentar nur eine unscharfe Begriffsbildung erkennen. Was ist nachhaltig? Mehr Geld ausgeben als potentiell vorhanden ist, Lasten in eine unbestimmte Zukunft verschieben?
Und warum richtet sich eine Verschuldungsbegrenzung gegen das Sozialstaatsprinzip, weil dieser nur über Schulden zu finanzieren ist oder wäre?
Nehmen Sie bitte Ihren Anspruch ernst, lassen Sie die Dogmen mal weg und plappern Sie nicht einen gefühlten linken Mainstream nach. Ihre Suada verrät bestenfalls, dass Sie unter Gläubigen aber nicht unter Wissenden sein wollen.

Diese Kritik veranlasst, noch einmal näher auf dieses anscheinend so kontroverse Thema einzugehen. Sicherlich habe ich es versäumt, die naheliegenden Auswirkungen dieses Gesetzes tiefer zu erörtern. Das wird nun nachgeholt werden. Zudem regt dieser Kommentar einen produktiven Diskurs an.

Stellungnahme zum Kommentar vom 9. 3. 2009:

Das eine gemäßigte Schuldenbremse per se nicht neoliberal sein muss ist richtig. Allerdings sprechen wir hier von einer der Förderalismuskomission II beschlossenen Verschärfung der Schuldenbremse, die schon bereits mit den Grundgesetz-Artikel 115 existierte. Die jährliche strukturelle Verschuldung darf nun maximal 0,35 – o,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes betragen. Das erlaubt dem Staat einen Verschuldungsspielraum von maximal 8 Milliarden Euro.

So betont der Wirtschaftswissenschaftler Heinz-J. Bontrup, dass sich Kein anders EU-Land wirtschaftspolitisch so borniert wie Deutschland verhält. „Selbst die neoliberal ausgerichtete EU erlaubt im Stabilitätspakt eine Neuverschuldung von drei Prozent.“ Gerade diese Forcierung macht rationales antizyklisches Wirtschaften unmöglich. Denn: „Will sich der Staat nicht prozyklisch, also krisenverschärfend verhalten, so bleibt ihm im Abschwung nur, die konjunkturbedingte Staatsverschuldung hinzunehmen.“ (Bontrup)

Diese Tatsache hat nichts damit zu tun, dass eine linke Politik nur über eine horrende Staatsverschuldung zu finanzieren wäre.

Nebenbei sollte man sich von der überholten Vorstellung verabschieden, das eine prozyklische, angebotsorientierte Sparpolitik automatisch zu einem Schuldenabbau führt. Genauso wie konjunkturfördernde Investitionen mittel- und langfristig Defizite verringern können, kann eine ausbleibende Konjunkturpolitik Rezessionen fördern, die die Schuldenlast langfristig vergrößert. Denn eine rigide Sparpolitik könnte negative Auswirkungen auf die volkswirtschaftliche Gesamtentwicklung haben. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK).

Die Forscher um den wissenschaftlichen IMK-Direktor Gustav A. Horn glauben, dass die derzeit diskutierten Pläne zur Schuldenbegrenzung eine prozyklische Finanzpolitik unterstützen würden. Während eines wirtschaftlichen Abschwungs könnte der Sparzwang den Abwärtstrend verstärken, im umgekehrten Fall wären unnötige Mehrausgaben und damit eine Verzögerung der Haushaltskonsolidierung möglich.

Letztendlich wird durch die Schuldenbremse der politische Handlungsspielraum derart eingegrenzt, dass aus dem Gesetz auch schnell eine Schuldenfalle werden könnte. Auch diesbezüglich kommt man um eine Zitierung Bontrups nicht herum: „Strukturelle Staatsverschuldung kann nur durch eine adäquate Steuererhebung und durch Abgaben bekämpft werden. Hier haben in Deutschland neoliberale Politiker den Staat durch Privatisierungen und völlig überzogene Steuersenkungen für Unternehmer und Vermögende vor die Wand gefahren.“

Das meiste der insgesamt aufgelaufenen Staatsverschuldung ist also nicht nur einer falschen widersprüchlichen kapitalistischen, nämlich neoliberalen Ökonomie, sondern auch einer falschen Politik geschuldet. Sinnvoller als eine “Schuldenbremse” wäre deshalb eine “Steuersenkungsbremse” (Peter Bofinger).

Davon einmal abgesehen ist es eine neoliberale Instant-Argumentation, Zukunftslasten und Schuldenanhäufung immer auf den Sozialstaat und/oder antizyklisches Wirtschaften zu schieben. Das Suada ist demnach, dass der Sozialstaat nicht mehr tragbar und der Keynesianismus nicht mehr zeitgemäß ist. Empirisch nachgewiesen wurde diese Mär allerdings nie, dennoch wird sie kampagnenhaft in den Medien und öffentlichen Debatten heruntergebetet.

Doch in meinem Artikel ging es weniger um das Postulat, dass eine soziale Politk nur mit Schulden zu finanzieren ist, sondern vielmehr um die berechtigte Sorge, dass die Schuldenbremse eben zu einer Kürzung der Sozialausgaben und der öffentlichen Daseinsvorsorge führen wird. Dabei muss eindrücklich hervorgehoben werden, dass durch eine ständig wachsende Produktivität in den Industrieländern, sich das für jeden zur Verfügung stehende Bruttoinlandsprodukt stetig erhöhen wird. So werden die Verteilungsspielräume in Zukunft größer werden. Es stellt sich diesbezüglich also nicht die Frage einer Schuldenpolitik, sondern die einer gerechten Verteilungspolitik.

In der bereits erwähnten Studie präsentiert das IMK eine Modellrechnung für die Jahre 2000 bis 2007. Wenn in dieser Zeit bereits entsprechende Schuldenregelungen gegolten hätten, wäre das Bruttoinlandsprodukt aber um bis zu 50 Milliarden Euro geringer ausgefallen. Auch die Schaffung neuer Arbeitsplätze hätte unter den Bedingungen einer Schuldenbremse nicht funktioniert, meint das IMK. In den vergangenen sieben Jahren wären deutlich mehr Menschen arbeitslos gewesen – zeitweise bis zu 535.000.

Zudem ist es generationsübergreifend sinnvoll, die Schuldenaufnahme an das Ausmaß der öffentlichen Investitionen zu binden (Bontrup). So lange künftige Generationen Nutznießer der heute getätigten öffentlichen Investitionen (etwa zugunsten der Umwelt, der Bildung oder der Infrastruktur) sind, bietet nur die Staatsverschuldung die Möglichkeit, diese auch an der Finanzierung zu beteiligen. Das ist plausibel und hat nichts damit zu tun, Lasten in eine unbestimmte Zukunft zu verschieben.

Die Frage, warum sich die Verschuldungsgrenze gegen das Sozialstaatsprinzip richtet, beantwortet – sofern durch die obere Argumentation nicht schon geschehen – ebenfalls Bontrup einprägsam: “Wer Schuldenbremsen und weniger Staatsverschuldung fordert, muss auch sagen, wer künftig all dies finanzieren soll: Das Kapital mit seinen Profitansprüchen oder die abhängig Beschäftigten, Rentner, Arbeitslosen und/oder Sozialhilfeempfänger mit ihren Einkommensansprüchen? Die Weichen sind offensichtlich gerade gestellt worden. Mit Sicherheit nicht das Kapital! Man wird über abgesenkte Staatsausgaben die Beschäftigten und die Schwächsten der Gesellschaft weiter zur Kasse bitten und so eine noch größere soziale und ökonomische Spaltung in unserem Land herbeiführen.”

So bleibe ich auch jenseits von linkem Mainstream bei folgender Schlussfolgerung: Die deutsche “Schuldenbremse” ist eine Bestätigung neoliberaler Wirtschaftspolitik per Gesetz und damit im Geist per se selbst neoliberal.

Wer sich mit den hier verwendeten Zitaten Heinz-J. Bontrups näher befassen möchte, dem ist seine Dokumentation in der FR-Online wärmstens zu empfehlen.

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Filed in: Diskurse, Ökonomie

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