FIFA unter Sepp Blatter
Die Welt im Mikrokosmos

Nicht nur die Korruption, sondern auch der soziale Ausverkauf des Fußballs sind ein FIFA-Skandal. Der ungleiche Kampf zwischen Nostalgie und Milliardengeschäft symbolisiert unsere globalisierte Welt im Mikrokosmos.

Foto: thierry ehrmann / flickr / CC BY 2.0

Von Sebastian Müller

Seine größten Liebhaber nennen den Fußball auch das “Spiel des Lebens”. Zum einem ist er ein Sport des Kollektivs und des Individuums, ein Widerstreit von Systemen, das mit dem Mittelfeld zudem eine Dimension besitzt, die anderen Sportarten fehlt. Die Tiefe des Raumes verleiht dem Fussball sein episches Element. Nur auf den großen Spielfeldern gibt es diese spezielle Mischung von Gewühl und Befreiung, in keinem anderen Mannschaftssport solche Vielfalt an Spielsituationen. Damit ist Fußball dem Leben näher als Basketball oder Handball, wo das Spiel aus der sturen Konfrontation von Angriff und Abwehr besteht.

Beim Fußball gibt es ein Mittelfeldspiel, und das Mittelfeld ist der Ort des Lebens. Aus dem Mittelfeld heraus entwickeln sich Sieg oder Niederlage, Triumph oder Depression, im Mittelfeld droht das Leben zu versacken, im Mittelfeld verbringt man wartend seine Zeit, gleichsam mit müßigen Ballgeschiebe, bis sich vielleicht doch eine Chance ergibt. Aber Tore sind selten, im Leben wie im Fußball“. – Dirk Kurbjuweit

Die Entwicklung der Welt spiegelt sich im Fußball

Zum anderem spiegelt der Fußball in all seinen Facetten die globale Welt im Mikrokosmos wieder. Über keine andere Sportart wird derart von Philosphen resümiert. Wie jede Weltanschauung und jedes politisches System hat auch der Fußball seine Denker und Lenker, Apologeten, Taktiker und Persönlichkeiten hervorgebracht.

Zwei dieser Persönlichkeiten, die den Widerstreit der Weltanschaungen innerhalb des Weltfußballs kaum besser verdeutlichen könnten, sind Jürgen Klinsmann auf der einen, und César Luis Menotti auf der anderen Seite. Beide stehen für eine eigene Philosophie, ja Interpretation des Spiels. Für den Autoren Matthias Jaenicke sind sie im gramscischen Sinne “organische Intellektuelle”, die in Abgrenzung zum “traditionellen” Intellektuellen alle umfassen soll, die in einer Gesellschaft auf den verschiedensten Ebenen für die konsensbildenden, hegemonialen Prozesse “zuständig” sind.

Auch wenn Gramsci weniger an Fußballtrainer gedacht hat als an Beamte, Lehrer oder Funktionäre von Parteien und Gewerkschaften, lässt sich mit ein bisschen Phantasie von Klinsmann als einem »Intellektuellen« sprechen. Oder will jemand ernsthaft die enorme integrative Kraft des Fußballs leugnen?” – Matthias Jaenicke

Der ehemalige Bundestrainer ist so eine integrative Kraft – und damit auch für die FIFA von außerordentlichen Wert. Warum, lässt vor allem ein erhellendes Gespräch Klinsmanns mit der »Süddeutschen Zeitung« vom Juni 2005 zeigen. Matthias Jaenicke verwies damals auf die allgegenwärtige Marketingrhetorik Klinsmanns, die ein offensives Spiel aus der Notwendigkeit begründe, sich am “Kunden Fan“ zu orientieren. Solche Vorstellungen, wie sie auch Sepp Blatter und die FIFA vertreten, besitzen dies- wie auch jenseits des Fußballs handfeste politische Implikationen.

  “Ein Sieg im nächsten Jahr (a.d.R.: bei der WM 2006) böte die Chance zu zeigen, wer wir sind. Wir haben die Möglichkeit, Deutschland neu zu definieren: eine Marke, einen ›Brand‹ zu schaffen.” – Jürgen Klinsmann

Klinsmann damals wie auch die FIFA heute hatten und haben dabei eine kontinuierliche Umwälzung der Verhältnisse, eine Reformierung als “permanenten Zustand” vor Augen, die letztlich nichts anderes als die ständige Ökonomisierung, Professionalisierung und Kommerzialisierung des Sports bedeutet, und seit Blatters Amtsübernahme als Präsident 1998 beachtliche Fortschritte gemacht hat. Auch Klinsmann verordnete in unübersehbarer Anlehnung an die Agenda 2010 dem deutschen Fußball eine „Agenda 2006“:

“Bisher machen die Athleten meist nur, was ihnen vorgegeben wird. Wir geben ihnen Hilfe zu Selbsthilfe. […] Es gibt kein Recht auf Faulheit, sondern eine Pflicht zur Leistungssteigerung. Wir wollen den mündigen Spieler.“ – Jürgen Klinsmann

Was ihm damals vorschwebte, gehört mittlerweile zur Realität des modernen Profifußballs. Das Sportmanagement griff zu einem ähnlichen Zeitpunkt auf neue Führungstechniken und in Form von individuellen Trainingsplänen auf Selbstoptimierungsprogramme zurück, wie dies auch unter dem neoliberalen Regime auf der Ebene der Unternehmensführung geschah und geschieht. Klinsmann verkörperte also den Prototyp einer transnationalen (Sport)-Managerklasse, eines »organischen Intellektuellen« des Neoliberalismus, mit dem genau jener neoliberale Management- und Vermarktungsdiskurs Einzug in das Terrain des Fußballs gefunden hatte, den auch die FIFA unter Fußballanhängern als Gedankengut popularisiert: Die Ausrichtung an den einschlägigen Werten von Kundenorientierung, Effizienz und Eigenverantwortung.

Die zitierte Suada Klinsmanns erinnert nicht zufällig an die politische Rhetorik, mit der auch das einst unter einem vermeintlichen “Reformstau” stehende Deutschland “Wettbewersfähig” gemacht werden sollte. Die Vermarktung und Reformierungsstrategien, die der Fußball durch die FIFA unterzogen wird, weisen unverkennbare Parallelen zu den gesellschaftspolitischen Ökonomisierungstendenzen in der globalisierten Welt auf. Dass Klinsmanns damaliger Kollege im Stab der Nationalmannschaft, der Teammanager und Betriebswirt Oliver Bierhoff, Botschafter der INSM (Intitiative Neue Soziale Martwirtschaft) – eines neoliberalen Think-Tanks ist, passt da nur zu gut ins Bild. Beide, Bierhoff und Klinsmann, stehen rhetorisch als auch wissenschaftlich für eine klinisch genaue Professionalisierung und Optimierung aller Aspekte des Fußballs, in Zuge derer sich jeder Spieler bis ins Detail in das Kollektiv einzufügen, also anzupassen hat. Das trägt Züge des Totalitären in sich, doch wer sich dieser Totalitarität verweigert, ist nicht mehr konkurrenzfähig.

“Bastarde der modernen Kultur”

Menotti, der Trainer, Gesellschaftstheoretiker und politische Philosoph in Personalunion, hatte den Fußball anders begriffen. Der Argentinier trat für ein freies, phantasievolles Spiel und gegen den ergebnisorientierten Fußball der „Söldner des Punktgewinns“ ein. Das Totalitäre machte er als Merkmale des “rechten Fußballs” aus, für den Existenzkampf am Ball – den “linken” hingegen als ein Fest der Fantasie. Er beschimpfte die “Bastarde der modernen Kultur”, die “Fußball als reine Ware betrachten” und “den Menschen die Träume und Visionen nehmen” würden. Menotti, der die Diktatur der Ökonomie bekämpfte, war der Bohémien und Sozialromantiker des Fußballs. In ihm sah er vor allem ein Spiel für das Volk, insbesondere für die Armen.

Noch anlässlich der WM 2006 in Deutschland schloss sich dieser nostalgischen Sicht der Sportjournalist Dirk Kurbjuweit an, der eine Weltmeisterschaft als das “Fest” einer besseren Globalisierung, “wie wir sie sonst erleben”, verklärte. Die Welt treffe sich zum “herrschaftsfreien Diskurs”, der Fußball sei ein “Beispiel für eine gerechte Weltordnung”, so Kurbjuweit.

Falls dies jemals so war, kann die Einschätzung Kurbjuweit heute gegenteiliger nicht sein. Zwar könnten die Worte so auch von Sepp Blatter persönlich kommen; längst aber ist der Fußball kein herrschaftsfreier Diskurs mehr, und nichts steht so sehr für die Globalisierung mit all ihren Verwerfungen wie die von ihr organisierten Weltmeisterschaften.

Blatter ist der Feind all dessen, was sich Menotti und Kurbjuweit wünschen. Funktionäre wie er würden dem Spiel am liebsten das Mittelfeld nehmen, weil seine Epik dem Spektakel am Fließband meist im Wege steht. Ginge es allein nach ihm, wäre der traditionsreiche Volkssport schon längst zu einer von Werbepausen zerstückelten, seichten Eventberieselung verkommen. Er symbolisiert die konterrevolutionären Kräfte des kommerziellen Ausverkaufs, die ausufernde Korruption, die Vereinheitlichung und Privatisierung des Weltfußballs.

Statt fairer Arbeitsbedingungen und Löhne steht die FIFA für Ausbeutung und die Umgehung von Arbeitnehmerrechten. Sie steht für die Welt der globalen Megakonzerne, die sich um die Gesetze und Regulierungen der Staaten einen feuchten Kehricht scheren, die sich ihre eigenen Regeln schreiben, kaum Steuern zahlen, sich gerne den Anstrich eines globalen Wohltäters und Friedensstifters geben, aber für das Gegenteil stehen, die kulturelle Eigenheiten und regionale Lebenswirklichkeiten ignorieren und zerstören.

Unter Blatters zynischer Ägide wurde nicht nur die Kommerzialisierung und Ausschlachtung auf die vorläufige Spitze getrieben, sondern hat sich wie in der Welt, so auch im Fußball die Schere zwischen Arm und Reich vergrößert. Die ökonomischen Paradigmen, die die Globalisierung der Welt dominieren, setzten sich auch in der Globalisierung des Fußballs durch. Noch nie waren die reichsten 1 Prozent, Weltklubs wie Barca, Real Madrid, Manchester United oder Bayern München wirtschaftlich und sportlich so abgehoben wie heute. Vorbei sind die Zeiten, als noch Vereine wie Roter Stern Belgrad oder Ajax Amsterdam europäische Titel in der Meisterklasse gewinnen konnten.

Die unter FIFA-Vorgaben entworfenen Stadien sind längst von Stätten der Inklusion zu solchen der Exklusion und Selektion geworden. Der Fußball wird zu einem Happening der Investoren und Gutbetuchten. Deutlich wurde dies spätestens während der Weltmeisterschaften in Südafrika oder Brasilien. Die Fifa kaschierte die massiven sozialen Probleme durch “Potemkinsche Dörfer” eines fröhlichen und bunten Gastgebers. In Katar wird dieses System auf die Spitze getrieben werden.

Diese Entwicklung hatte niemand mehr gefördert und forciert als Sepp Blatter. Der Schweizer ist nicht der Freund des Fußballs, wie er unablässig betont, sondern sein erster Totengräber. Er steht für das rein kommerzielle Kalkül, das keinen Sinn für die Ästhetik des Unvorhergesehenen hat. Das Überraschende, das Besondere und das Freie soll stattdessen in jederlei Hinsicht eingehegt, standardisiert und normiert, der Augenblick in eine Zeitschleife des Kommerzes gepresst werden. So wird das Ungewöhnliche zum Gewöhnlichen, das Unvorhergesehene zum Vorhergesehenen. Blatter will den Fußball und seine Helden überwachen, er will ihn begradigen, wie man einen Fluss zur Steigerung des Handels begradigt.

El Flaco, der Dürre, wie Menotti bisweilen genannt wird, sagte einst, dass eine “Mannschaft ohne Abenteurer” wie “ein Land ohne Poesie” sei. Die FIFA ist ein solches “Land ohne Poesie”, denn die “Abenteurer” fehlen weniger auf dem Feld, als in der Welt der Politik und Funktionäre. Sie fehlen in einer Epoche, die durch Parolen wie “There is no Alternative” und gedanklichen Stillstand geprägt ist.

“Die Diktatur der Taktik und den Terror der Systeme besiegt“

Dass der Fußball dennoch irgendwie immer wieder zu überleben scheint, mag vielleicht auch daran liegen, dass diesem Spiel eben doch Kräfte und Gedanken innewohnen, wie sie Menotti repräsentiert. Es ist der Widerstreit zwischen “rechten” und “linken Fußball”, zwei Philosophien der Ordnung, den die Fans intuitiv spüren. Menotti selbst, der diese Begriffe erfunden hatte, spannte den Bogen vom Spiel zur realen Politik. Nachdem er 1978 die Albiceleste im eigenen Land zum WM-Triumph geführt hatte, verweigerte er dem Militärdiktator Jorge Rafael Videla den Handschlag und sagte in doppeldeutigen Worten: „Meine Spieler haben die Diktatur der Taktik und den Terror der Systeme besiegt.“

In diesem Sinne mag auch die globale Ordnung des Fußballs als Parabel für eine globale Welt stehen, in der es sich trotz einer Logik der totalen Ökonomisierung noch zu hoffen lohnt.

Wahrlich, solange der Fußball “Systemfehler” wie in Darmstadt hervorbringt, wo ein Verein ohne nennenswerte finanzielle Mittel und mit einer Mannschaft der Aussortierten den Durchmarsch von der Dritten bis in die Erste Bundesliga schaffte, solange bleibt er lebendig. Solange es “Abenteurern” wie Baggio, Zidane oder Messi immer wieder gelang und gelingt, mit einen Geniestreich die Reihen des starren Systems, für den Bruchteil eines Augenblicks die herrschende Ordnung des Spiels aus den Angeln zu heben und für eine kurze, fußballerische Revolution auf dem Feld zu sorgen, solange ist vielleicht auch noch eine Revolution jenseits des Feldes möglich.

Insofern war der überraschende Rücktritt Joseph Blatters das Beste, was dem Fußball passieren konnte, bevor das Spiel endgültig zur Ware wird. Denn der Fußball ist das Spiel des Lebens.

Artikelbild: thierry ehrmann / flickr / CC BY 2.0

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