Zum Tod von Günter Grass
Was er sagen musste

Mit Günter Grass verstarb nicht „nur“ ein großer Schriftsteller, sondern zugleich auch einer der politischsten und streitbarsten Intellektuellen der deutschen Nachkriegsgeschichte. Ein Nachruf.

Günther Grass

Foto: Elisa Cabot / flickr / CC BY-SA 2.0

Von Florian Sander

Mit Günter Grass verstarb am 13. April nicht einfach „nur“ ein großer Schriftsteller, sondern zugleich auch einer der bekanntesten, politischsten und streitbarsten Intellektuellen der deutschen Nachkriegsgeschichte. Ein Mann, der sich stets einmischte, und der dabei – besonders in den letzten Jahren – nicht unumstritten war, der aber keine Angst hatte, gegen teils mächtige, gar internationale Widerstände zu seinen Überzeugungen zu stehen, so unbequem sie auch waren.

Sein literarisches Werk kann an dieser Stelle nicht beurteilt werden – hierfür fühlt sich der Autor dieser Zeilen nicht kompetent genug. Was aber diskutiert werden soll, ist die alles andere als irrelevante politische Rolle, die er für die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eingenommen hat. Schon allein diese ist einen sorgfältigen Blick und – zudem – auch eine Würdigung wert.

Günter Grass war kein Mann der leisen Töne. Seine Positionierungen waren stets klar, laut und bisweilen leidenschaftlich und emotional. Der Sozialdemokrat, der sich für Willy Brandts Deutschlandpolitik engagiert hatte, trat 1992 aus der SPD aus, weil er mit deren Zustimmung zum Asylkompromiss nicht einverstanden gewesen war. Gleichwohl betrachtete er sich auch nach dieser drastischen, aber – typisch Grass – prinzipienorientierten Grundsatzentscheidung weiterhin als demokratischer Sozialist. Wohlgemerkt: Als rot-grüner demokratischer Sozialist.

Früh trat er für eine bundesweite Koalition zwischen SPD und Grünen ein und warb für den Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder. Gemeinsam mit dem ehemaligen DDR-Bürgerrechtler und damaligen Grünen-Fraktionsvorsitzenden im Landtag von Sachsen-Anhalt, Hans-Jochen Tschiche, und dem damaligen sachsen-anhaltinischen SPD-Ministerpräsidenten Reinhard Höppner gab er 1998 den kurzen Band „Rotgrüne Reden“ heraus, in dem die drei genannten ihre Vorstellungen ausführten. Der demokratische Sozialist Grass blieb auch später noch seiner Sache treu: Oskar Lafontaine und seine heutige, tiefrote Partei wurden seine Freunde nicht, auch wenn er für eine grundsätzliche Annäherung von SPD und Linken eintrat. Wenn auch ausgetreten, galt seine politische Sympathie weiterhin klar der Sozialdemokratie.

Lange gehadert hat Grass mit der deutschen Einheit. Später revidierte er Teile seiner damals beträchtlichen Skepsis und stufte sie – zurecht – als unbegründet ein. Die Überwindung der Teilung sei richtig gewesen, so Grass; falsch gewesen sei jedoch die Art, in der diese erfolgt war. Die nachträgliche Beschränkung seiner Kritik auf den prozeduralen Aspekt der Einheit zeigt eine Altersmilde, aber auch eine Altersweisheit Grass‘, die sich angenehm von dem wenig rationalen, bauchgefühligen „Unwohlsein“ früherer Jahre über das „große Ganze“ abhebt – und dabei auch, mit Blick auf die Fehler der Kohl-Regierung hinsichtlich der wirtschaftspolitischen Umsetzung der Einheit, deutlich nachvollziehbarer ist.

So selten Grass auch leise war, so gab es doch Kapitel seines Lebens, bezüglich derer so mancher etwas mehr Lautstärke von ihm erwartet hätte. So vor allem seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS, welche er erst im Jahre 2006 öffentlich gemacht hat – als er bereits jahrzehntelang als das moralische, und dabei eben auch linke Gewissen der Nation institutionalisiert war. Eine Doppelrolle, die in den Augen vieler nicht zusammenpasste, und für seine Verhältnisse ungewöhnlich inkonsequent gewesen war.

Eine Kritik, die jedoch vor allem auf seinen langjährigen (Nicht-)Umgang mit diesem biografischen Kapitel abzielen sollte, und weniger auf dieses als solches. Denn, Tatsache bleibt wohl auch: Günter Grass, der als Jugendlicher 1944 zur Waffen-SS eingezogen (!) worden war, war nach eigenen Angaben weder an Kriegsverbrechen beteiligt noch hat er auch nur einen Schuss abgegeben. Es sollte erlaubt sein, hier die Rückfrage an die Kritiker zu stellen, ob sie sich in einer solchen Situation maßgeblich anders verhalten hätten als der damals 17jährige Günter Grass es getan hat. Die Komplexität eines solchen Szenarios macht schnell deutlich, dass die lautstarke Empörung über die zugegebenermaßen späte, aber eben dennoch erfolgte Veröffentlichung dieses Lebenskapitels wohl in so manchem Falle eher eine politische als eine ernste moralische Intention gehabt hat.

Dies gilt umso mehr mit Blick auf eines der letzten – politischen – Kapitel des Wirkens von Günter Grass. Im April 2012 veröffentlichte Grass in der Süddeutschen Zeitung ein Gedicht mit dem Titel „Was gesagt werden muss“, in dem er die israelische Politik gegenüber dem Iran klar attackierte, vor einem heraufziehenden Krieg warnte und die deutschen U-Boot-Lieferungen an Israel kritisierte. Die Reaktionen fielen international heftig aus: Der Antisemitismus-Vorwurf, den Grass in seinem Gedicht zuvor noch als oftmals als politisches Instrument genutzt dargestellt hatte, fiel mehrfach; die rechtsgerichtete israelische Regierung verhängte gar ein Einreiseverbot gegen ihn.

Ein Vorgang, der bereits bei früheren, medial und politisch herbeikonstruierten Skandalen dieser Art zu beobachten war, zeigte sich hier erneut: Die schrille öffentliche Reaktion auf eine kritisierte Äußerung bestätigt diese Äußerung implizit. So auch in diesem Falle. Grass hatte die Reaktion vorausgesehen und die politische Waffe des Antisemitismus-Vorwurfs in seinem Gedicht direkt angesprochen, was diejenigen, die sich, wie so häufig, zu bequem waren, argumentativ zu reagieren, natürlich nicht davon abhielt, genau diese Waffe wieder einzusetzen.

In schriller, in Teilen – mit Blick auf Einreiseverbote – sogar in hysterischer Form, in zu erwartender Weise begünstigt durch die Bekanntheit von Grass‘ SS-Vergangenheit. Im Zuge des Gedichtes und der sie begleitenden öffentlichen Äußerungen seines Schöpfers zum Thema komme gewissermaßen wieder nur der alte Geist in Kombination mit deutschen Kollektivneurosen hervor, so der allgemeine Tenor der dauerhaft Empörten, die sich stets zu bequem waren, auf den eigentlichen Inhalt zu reagieren und zu erklären, warum die einseitige Unterstützung einer atomar bewaffneten Konfliktpartei gegenüber einer bislang nicht atomar bewaffneten Konfliktpartei friedensbewahrend oder gar ein „richtiges Handeln vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte“ sein sollte.

Wer Grass allen Ernstes zum Antisemiten zu brandmarken versucht (wozu sich selbst jetzt, im Rahmen der öffentlichen Reaktionen und Diskussionen nach seinem Tod, so manche peinlicherweise nicht zu schade sind), der versucht entweder, politisch zu diskreditieren, oder plappert die Äußerungen jener nach, die das versuchen, ohne sich selbst je näher mit Günter Grass auseinander gesetzt zu haben.

„Es fällt mir schwer, eine von kritischen Nebentönen freie, nur lobpreisende Rede anzustimmen. Als Schriftsteller sehe ich mich Wirklichkeiten gegenüber, die nie eindeutig sind. Ich habe nicht mit Schwarz oder Weiß, sondern mit Grauwerten zu tun“ (Günter Grass in einer Rede am 20. März 1998 in der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg).

Diese Äußerung kann als ein Schlüsselsatz zum Verständnis des politischen Denkens des Günter Grass betrachtet werden. Ein Mann, der, wie er sagt, „in Grauwerten“ denkt, der denkt nicht in moralistischen Kategorien, in unterkomplexen Gut-versus-Böse-Differenzierungen. Eine solche Herangehensweise, die sich eben auch und gerade in politischen Fragestellungen manifestieren muss, bedeutet eine äußerst schützend wirkende „Impfung“ gegen jede Form des einseitig-pauschalen Denkens, wie der Antisemitismus eine ist. Zugleich macht sie aber natürlich einen international bedeutsamen Akteur wie den Staat Israel nicht automatisch zu etwas per se „gutem“, nur weil er eben nicht per se „böse“ ist. Sie bedeutet, mehrdimensional und in Abstufungen denken zu können. Sie steht dafür, sowohl sich selbst als auch die gesellschaftlichen Verhältnisse immer und immer wieder von Grund auf neu in Frage stellen zu können.

Nichts anderes als das hat Günter Grass Zeit seines Lebens getan: Sei es sich selbst und der eigenen Biografie gegenüber, sei es gegenüber seinem Land und der „deutschen Frage“ oder sei es eben in Hinblick auf internationale Konflikte. Spätestens jetzt, nach seinem Tod, wäre der Augenblick gekommen, dies anzuerkennen.

Artikelbild: Elisa Cabot / flickr / CC BY-SA 2.0

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5 Kommentare zu "Zum Tod von Günter Grass
Was er sagen musste"

  1. Vielen Dank für diesen ausgewogenen Nachruf. Vielleicht werden einige bald merken, was uns jetzt im Land fehlt.

    PS: Der Vorname Günter schreibt sich ohne h.

  2. Eckart Christiansen sagt:

    Was wir an G. Grass gehabt haben, welchen Dank wir ihm schulden, mag man auch daran ermessen, wie seine Feinde über ihn urteilen. Der Großmeister der Beleidigungen und der unsäglichen Niedertracht, H.M. Broder, wartete zwei Wochen, bis er in der literarischen Fachzeitschrift “Bild” sein Urteil fällte.”Hängt ihn tiefer” heißt der Artikel, der mit dem geheuchelten Wunsch schließt, “der Allmächtige möge seinen Nachrednern” vergeben. Was Broder wirklich wirklich wünscht, das weiß jeder, der sich mit dem Autor von “Hurra, wir kapitulieren” auskennt: Wir mögen unseren Grass über den Tod hinaus schätzen, auf dass der Berufszionist uns um so besser hassen möge.

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