Nietzsches Nihilismus
Prozesse der Auflösung

Die Quotenpolitik als Machtpolitik

Viele Feministinnen knüpfen in Theorie und Praxis an die Position Foucaults an (z. B. Judith Butler, Iris Young, Donna Haraway). Auch sie weisen die Idee einer allgemeingültigen Erkenntnis, eines erkennenden Subjekts, einer unser Denken und Handeln bestimmenden Vernunft und einer allgemeingültigen Moral zurück. Auch sie vertreten einen radikalen Perspektivismus, auch „Standortgebundenheit der Erkenntnis“ genannt, Interpretationismus und Konstruktivismus.(25)

Die zentrale soziale Kategorie ist für sie die des Geschlechts (Gender), die zentrale Perspektive die der Frauen. Prominente Feministinnen wenden sich zwar theoretisch gegen einen geschlechtlichen Essentialismus, wonach es ein Wesen, eine Natur der Frau gibt, sprechen aber zwecks Durchsetzung ihrer Interessen in der Politik von den Frauen. Sie glauben ferner daran, dass Frauen aufgrund ihrer Erfahrungen mit Unterdrückung und sozialen Kämpfen einen besonderen Zugang zur Realität haben und daraus besondere Ansprüche für sich selbst ableiten können.

Die Aufgabe einer feministischen Politik ist es, in einem ersten Schritt die bestehenden Machtstrukturen zu destruieren, in einem zweiten Schritt Machträume für Frauen, genauer: für eine bestimmte Gruppe von Frauen zu erweitern, was konkret die Eroberung von Machtpositionen (Führungspositionen) bedeutet. Parteilichkeit für Frauen ist die zentrale Säule der feministischen Politik, Interventionen, d.h. punktuelle Eingriffe ins politische Geschehen, ihr bewährtes Mittel.

Der feministischen Politik der Gegenwart geht es nicht darum, sich an für alle Menschen geltenden Werten und Normen, an Gleichberechtigung und Chancengleichheit zu orientieren, sondern Vorteile und Sonderrechte für Frauen, nochmals: für eine bestimmte Gruppe von Frauen zu ergattern. Die feministische Politik in Gestalt der Gleichstellungspolitik orientiert sich nicht an allgemeingültigen Werten und Normen, sie verstößt ganz offen gegen sie. Das soll im Folgenden anhand der Quotenpolitik, die ein Teil der bundesrepublikanischen Gleichstellungspolitik ist, demonstriert werden.

Die Forderung nach einer Frauenquote für prestigeträchtige und mit Macht ausgestattete Positionen wird seit Jahren von der Politik mit besonderem Nachdruck erhoben und von den Leitmedien bereitwillig propagiert. Hinter der Quotenpolitik stehen mächtige Lobbygruppen aus Politik (z.B. die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen, die Frauen Union der CDU), Wirtschaft (FidAr) und Medien (ProQuote). Dabei wird nicht selten die Quotenpolitik ganz offen und im positiven Sinne als Lobbypolitik, also als eine Politik der Privilegierung und der Inanspruchnahme von Sonderrechten bezeichnet. So zum Beispiel in einem Zeit-Artikel über Monika Schulz-Strelow, die Präsidentin des Vereins Frauen in die Aufsichtsräte (FidAr).(26)

Der Verein hat in den letzten Jahren „massiven Lobbydruck auf Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit ausgeübt“, um die Frauenquote in Aufsichtsräten durchzusetzen. Schulz-Strelow hat offensichtlich „das Spiel mit der Macht von der Pike auf gelernt“. Dass das Thema Frauenquote in den Leitmedien so allgegenwärtig ist, ist auch der Verdienst von Schulz-Strelow. Zu ihrem einflussreichen Netzwerk gehören u.a. Thomas Sattelberger (Telekom) und Ursula von der Leyen. Es reicht bis nach Brüssel.

Exemplarisch für die Haltung der Frauenquote-Lobbyistinnen sind die Äußerungen der ehemaligen Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts Jutta Limbach. In dem FAZ-Artikel „Endlich halbe halbe!“ demonstriert sie die Grundzüge einer auf Partikularinteressen ausgerichtete Politik, also die Grundzüge einer Lobby- und Klientelpolitik.(27)

Zunächst unterteilt sie die Menschheit in zwei Gruppen/Kollektive, in die Frauen und die Männer, um für eine der beiden Gruppen (die Frauen) Privilegien und Sonderrechte einzufordern. Da sie eine Frauenquote „hinsichtlich aller mit Macht und Prestige verbundenen Positionen“ fordert, unterteilt sie die Menschen darüber hinaus in diejenigen, die solche Positionen erlangen können – meistens Menschen aus der Oberschicht -, und diejenigen, die solche Positionen in der Regel nicht erlangen können – vorwiegend Menschen aus der Unterschicht. Die Frauenquote soll demnach Macht und Prestige für Frauen bringen, aber nicht für alle Frauen, sondern nur für eh schon privilegierte Frauen aus der Oberschicht. Bereits an dieser Stelle wird offenkundig, dass sich die Quotenpolitik nicht um allgemeingültige – also für alle Menschen geltende – Werte, Normen und Rechte schert und eine auf Partikularinteressen ausgerichtete Machtpolitik darstellt.

Jutta Limbach spricht außerdem vom „Gleichstellungsauftrag des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes“, der die Einführung der Frauenquote rechtfertigen soll. Doch das Grundgesetz kennt keinen „Gleichstellungsauftrag“. Es spricht hingegen von Gleichberechtigung. Gleichberechtigung bedeutet, dass alle Bundesbürger gleiche Rechte haben sollten. Es bedeutet, dass keine Bundesbürger bzw. Gruppen von Bürgern Sonderrechte haben sollten. Gleichstellung bedeutet das Gegenteil von Gleichberechtigung, nämlich die Herstellung von Ergebnisgleichheit zwischen Gruppen.

Jutta Limbach hebt ferner hervor, dass die Frauenquote zu mehr „Geschlechtergerechtigkeit“ beiträgt. Auch der Begriff der Geschlechtergerechtigkeit fehlt im Grundgesetz, denn das Grundgesetz ist individualrechtlich, nicht kollektivrechtlich ausgerichtet. Das bedeutet, dass es keine Gerechtigkeit unter Gruppen, sondern nur unter Individuen, die für sich gleiche Rechte in Anspruch nehmen, geben kann.

Um einen Arbeitsplatz bewerben sich schließlich nicht das Kollektiv die Frauen und das Kollektiv die Männer, sondern immer nur Einzelpersonen (Individuen). Dabei soll die bestqualifizierte Person die entsprechende Arbeitsstelle erhalten (das Prinzip der Bestenauslese). Die Rede von „Geschlechtergerechtigkeit“ ist nur ein Mittel, mit dessen Hilfe eine auserwählte Gruppe von Frauen bei der Stellenvergabe bevorzugt werden soll. Die damit zusammenhängende Benachteiligung von Männern wird ohne Skrupel in Kauf genommen und es wird somit gegen den für alle Menschen geltenden Grundsatz der Nicht-Diskriminierung (kein Mensch darf diskriminiert werden) verstoßen.

Mit der Durchsetzung der Frauenquote soll nach Limbach die statistische Ungleichheit zwischen Männern und Frauen, also die sog. „Unterrepräsentanz von Frauen in Führungspositionen“ behoben werden. Dabei nimmt sie wie alle Frauenquote-Lobbyistinnen an, dass diese Ungleichheit eine Folge von Frauendiskriminierung ist. Diese Annahme ist falsch. Viele Studien belegen, dass die genannte Ungleichheit keine Folge von Frauendiskriminierung ist, sondern von Faktoren abhängt, die wiederum auf freien Entscheidungen von Frauen beruhen (Neigungen, Präferenzen und Lebensentwürfen).(28) Die These von der Unterrepräsentanz von Frauen in Führungspositionen wird ebenfalls dazu benutzt, eine auf Partikularinteressen und Privilegierung ausgerichtete Politik zu forcieren und eine offene Diskriminierung von Männern zu rechtfertigen.

Günter Buchholz, einer der schärfsten Kritiker der Gleichstellungs- und Quoten-Politik, verweist darauf, dass die Frauenquote „Ausdruck eines nackten verteilungspolitischen Anspruchs“ ist; eine Gruppe von Frauen hat das Ziel, sich jenseits des normalen Wettbewerbs Sonderrechte zu verschaffen.

„In der Durchsetzung dieser Interessen gibt es bis hin zum Verfassungsbruch kaum Hemmungen. (…) Die machtpolitische Haltung dahinter ist eine nihilistische, weil alleine die faktische Durchsetzung zählt.“(29)

Man sollte noch ergänzen: Weil alleine die faktische Durchsetzung zählt, ohne Rücksicht auf allgemeingültige, das heißt für alle Menschen geltende Werte, Normen und Rechte.

Günter Buchholz fährt fort:

„Das erklärt auch die Gleichgültigkeit gegenüber Wissenschaftlichkeit und Wahrheit und die auffällige Gleichgültigkeit und Hemmungslosigkeit von Feministinnen im Umgang mit diesen Eckpfeilern der Aufklärung.“

Der Menschenrechtsaktivist Aaron Rhodes macht darauf aufmerksam, dass die Frauenquote gegen fundamentale, für alle Menschen geltende Rechte, nämlich gegen die Menschenrechte verstößt,

„denn eine Gruppe zum Nachteil einer anderen Gruppe zu privilegieren, widerspricht nicht nur dem Rechtsstaatsprinzip, sondern auch den Menschenrechten.“(30)

Rhodes hat mit Menschenrechten in erster Linie die Gleichheit vor dem Gesetz im Blick. Menschen sollten vor dem Gesetz gleich behandelt werden, d.h. unabhängig von ihrer Gruppenzugehörigkeit, also unabhängig von Geschlecht, Ethnie, Hautfarbe, Religion usw. Anders gewendet: Kein Mensch und keine Menschengruppe darf vor dem Gesetz besser behandelt, privilegiert werden. Die Frauenquote privilegiert Frauen zum Nachteil von Männern. Sie stellt somit eine Diskriminierung von Männern dar.

Die Einführung der Frauenquote wird auch damit gerechtfertigt, dass sie Vorteile für die Wirtschaft bringe. Diese Rechtfertigung ist nach Rhodes ganz schwach, denn

„wenn wir die Freiheit und Gleichheit anderen Zielen opfern, schwächen wir die Menschenrechte und somit unseren Schutz vor Tyrannei und Willkür.“

Rhodes möchte damit zum Ausdruck bringen, dass Menschenrechte weder relativiert noch für ihnen fremde, zum Beispiel politische Zwecke instrumentalisiert werden dürfen. Zwar belegen unabhängige Studien, dass die Erhöhung des Frauenanteils im höheren Management keine Vorteile, sondern eher Nachteile für Unternehmen bringt,(31) doch auch wenn die Erhöhung des Frauenanteils durch die Frauenquote Vorteile für Unternehmen hätte, wäre die Frauenquote nach Rhodes falsch, da der Preis – “die Verhandelbarkeit der Gleichheit vor dem Gesetz” – zu hoch wäre.

Rhodes zufolge sind Menschenrechte als allgemeingültige Normen nicht verhandelbar. Sie gelten in diesem Sinne unbedingt. Dem Gesetz zur Einführung der Frauenquote liegt hingegen ein „rechtlicher Relativismus“ zugrunde, in dem Prinzipien immer so interpretiert werden, “wie es gerade zu den politischen Zielen passt.“

Mit anderen Worten: In der Quotenpolitik werden Prinzipien/Rechte verhandelt, sie gelten dort nicht für Alle, sondern für eine bestimmte Gruppe von Personen. Sie gelten nicht unbedingt, d. h. sie werden relativiert und für politische Ziele, die bestimmten Lobbygruppen dienen, instrumentalisiert. Sie sind bloß Mittel, mit deren Hilfe partikulare Machtinteressen durchgesetzt werden.

Dem rechtlichen Relativismus liegt der oben geschilderte postmoderne Relativismus zugrunde, denn der Postmoderne zufolge sollten allgemeingültige Werte und Normen aufgelöst werden. Werte und Normen können nur relativ zu dem jeweiligen sozio-kulturellen und geschichtlichen Kontext bestehen und sie können – wenn sie denn überhaupt aufrechterhalten werden sollten – nach Bedarf und Belieben umgedeutet und partikularen Machtinteressen dienlich gemacht werden.

Dem postmodernen Relativismus und Nihilismus kann dergestalt entgegnet werden, dass der besondere Status von Menschenrechten, aber auch von anderen, unser Handeln bestimmenden Rechten, Werten und Normen hervorgehoben wird. Zu diesem Status gehören:

– Allgemeingültigkeit; sie müssen für alle Menschen gelten, und zwar im Absehen von ihrer Gruppenzugehörigkeit;
– Nicht-Verhandelbarkeit; sie können nicht je nach Bedarf, je nach Belieben und je nach Kontext umgedeutet und als Mittel zur Durchsetzung von partikularen Machtinteressen eingesetzt werden,
– Unbedingtheit; ihre Geltung darf nicht an Bedingungen bzw. Kontexte, sei es ökonomischer oder politischer Art, geknüpft werden.

Nur wenn wir uns an so verstandenen Rechten, Werten und Normen orientieren, können wir dem Lobbyismus, dem Klientelismus und einer auf reinem Machtkalkül beruhenden Politik der Privilegierung die Stirn bieten.

Der Beitrag erschien ursprünglich auf Cuncti.

Artikelbild: Timothy Allen / flickr / CC BY-SA 3.0

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Quellen:

(1) Friedrich Nietzsche, Werke, Achte Abteilung, Zweiter Band, Nachgelassene Fragmente Herbst 1887 bis März 1888, Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrsg.), Berlin 1970, S. 14.
(2) Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, in: Werke, Sechste Abteilung, Dritter Band, Berlin 1969, S. 75.
(3) Friedrich Nietzsche, Werke, Achte Abteilung, Erster Band, Nachgelassene Fragmente Herbst 1885 bis Herbst 1887, Berlin 1974, S. 323.
(4) Karl R. Popper, Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg 1993.
(5) Friedrich Nietzsche, op. cit. 1974, S. 138.
(6) Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: Ders., Werke, Sechste Abteilung, Zweiter Band, Berlin, 1968.
(7) Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: Ders. op. cit. 1968, S. 12.
(8) Friedrich Nietzsche, Werke, Achte Abteilung, Zweiter Band, Nachgelassene Fragmente Herbst 1887 bis März 1888, Berlin 1970, S. 88ff.
(9) Friedrich Nietzsche, op. cit. 1968, S. 130.
(10) Ebd., S. 291.
(11) Ebd., S. 220.
(12) Friedrich Nietzsche, Werke, Nachgelassene Fragmente Anfang 1888 bis Anfang Januar 1889, Berlin 1972, S. 402.
(13) „Die Rückkehr der Moral. Ein Interview mit Michel Foucault“, in: Eva Erdmann u.a. (Hrsg.), Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt am Main 1990, S. 141.
(14) Michel Foucault, Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978.
(15) Michel Foucault, „Nietzsche, Freud, Marx“, in: Ders. Schriften in vier Bänden, Band 1, Frankfurt am Main 2001, S. 734.
(16) Michel Foucault, „Zur Genealogie der Ethik: Ein Überblick über laufende Arbeiten“, in: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt am Main 1987, S. 268 und 271.
(17) Michel Foucault, op. cit. 1978, S. 60/61.
(18) Alexander Ulfig, „Ist der Mensch das Maß aller Dinge? Postmoderner Anti-Humanismus versus Humanismus als Lebensorientierung“, in: Cuncti 19.10.2014: http://www.cuncti.net/streitbar/821-ist-der-mensch-das-mass-aller-dinge
(19) Richard Wollin, „Foucault´s aesthetic decisionism“, in: Telos no 67 1986, S. 71-86.
(20) Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt am Main 1977, S. 113f.
(21) Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1976, S. 250.
(22) Michel Foucault, op. cit. 1990, S. 135.
(23) Ebd., S. 135/136.
(24) Hans-Herbert Kögler, Michel Foucault, Stuttgart 20042, S. 144.
(25) Vgl. Donna Haraway, Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt am Main 1995.
(26) Tina Groll, „Lobbyismus. Die Frau hinter der Frauenquote“, in: Zeit Online 8.9.2011: http://www.zeit.de/karriere/beruf/2011-08/frauenquote-lobby-fidar
(27) Jutta Limbach, „Endlich halbe halbe!“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 29.9.2014: https://blogs.faz.net/10vor8/2014/09/29/ohne-quote-keine-gerechtigkeit-2570/
(28) Gérard Bökenkamp, „Catherine Hakims Präferenztheorie: Was Frauen wollen“, in: Cuncti 18.8.2012: http://cuncti.net/streitbar/252-catherine-hakims-praeferenztheorie-was-frauen-wollen
(29) Günter Buchholz, „Der radikale Biologismus des Gender-Mainstreamings“, in: Huffington Post 27.11.2014: http://www.huffingtonpost.de/guenter-buchholz/gender-mainstreaming-der-radikale-biologismus-_b_6224334.html
(30) Aaron Rhodes, „Mannomann. Die Frauenquote ist ein Menschenrechtsverstoß“, in: Zeit Online 28.12.2014: http://www.zeit.de/2014/51/frauenquote-menschenrechte-verstoss
(31) Michael Klein, „Die gesellschaftlichen Kosten einer gesetzlichen Frauenquote“, in: Kritische Wissenschaft 1.4.2012: http://sciencefiles.org/2012/04/01/die-gesellschaftlichen-kosten-einer-gesetzlichen-frauenquote/

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13 Kommentare zu "Nietzsches Nihilismus
Prozesse der Auflösung"

  1. Sarah sagt:

    Wow! Ich bin begeistert von diesem sachlichen und differenzierten und gut recherchierten Text. Ich kann mich dieser Auffassung nur voll und ganz anschließen. Hatte diese Diskussion über Objektivität schon mit vielen anderen Frauen, die sich ebenfalls als Feministinnen definierten. Ich habe mich immer gefragt, wenn es keine Objektivität gibt – somit keine allgemeingültigen Werte – und nur das Machtstreben im Fokus steht, müsste es nach dieser Auffassung denn nicht völlig legitim sein, im Interesse meiner Machterweiterung/-erhaltung, die zu töten, die mir im Weg stehen? Bitte verstehen Sie, dass dies nur eine hypothetische Frage ist.

    Ich habe aber eine Frage – sie sagen:

    “Nietzsche verwechselt hier den Entstehungs- mit dem Begründungszusammenhang. Auch wenn man zeigen könnte, dass Moral aus bestimmten partikularen Interessen entsteht, sagt das noch nichts über ihre Geltung aus. Auch wenn man nachweisen könnte, dass die Moral, die von gleichen Rechten für alle Menschen spricht, aus den Interessen der Schwachen, Unterdrückten und Unterprivilegierten hervorgegangen ist, wäre damit kein Einwand gegen die Richtigkeit dieser Moral formuliert.”

    Aber wenn moralische Werte nur aus einem Machtinteresse entstehen, löst das nicht nicht die Kategorien von “gut” und “böse”, “richtig” und “falsch” auf? Also, dass die moralischen Werte einer Person (die ja nur Machtinteresse sind) den moralischen Werten (ebenfalls Machtinteresse) einer anderen Person gegenüberstehen und die stärkere Macht sich durchsetzt?

    Denn wie will man, wenn es keine Objektivität und Allgemeingültigkeit mehr gibt, sondern, nur Subjektivität und Interpretation, Kategorien zur Bewertung eines moralischen Wertes aufstellen bzw. diese Werte nach “richtig” oder “falsch” einteilen oder bemessen – also einen Maßstab entwickeln, nach dem das gemessen wird? Es gibt doch keinen Maßstab, wenn alles subjektiv ist, nur der eigene und das heißt: Jeder darf nach seinen eigenen Vorstellungen leben und alles tun um sich durchzusetzen.

    Ich würde mich fragen, wie die Menschen mit dieser Auffassung es finden würden, wenn man diese Auffassung konsequent leben würde?

    Liebe Grüße

    • Alexander Ulfig sagt:

      @ Sarah
      “Entstehungszusammenhang” meint hier, dass man mit der Entstehung der Moral ihre Gültigkeit begründet wird; Daraus, dass die Moral der gleichen Rechte von Unterdrückten, Unterprivilegierten und in Nietzsches Worten “Schwachen” aufgestellt bzw. von ihnen durchgesetzt wurde, wird von Nietzsche auf die Falschheit dieser Moral geschlossen. “Begründungszusammenhang” bedeutet, dass man die Moral, genauer: moralische Normen nicht im Rekurs auf ihre Entstehung, sondern anhand von bestimmten Kriterien begründet. Zu den Kriterien gehören z.B.: Übereinstimmung mit bestimmten Werten, Akzeptanz durch die Mehrheit der Bevölkerung, , Bewährung dieser Normen, ihre Nützlichkeit usw.

  2. Rafael sagt:

    @Sarah

    Zitat: “Ich würde mich fragen, wie die Menschen mit dieser Auffassung es finden würden, wenn man diese Auffassung konsequent leben würde?”

    Im Grunde ist es eine rhetorische Frage…

    Ich bin davon überzeugt, daß in das Herz eines jeden Menschen das in der Moralphilosophie und -theologie genannte Naturrecht gesenkt ist, welches seine Präzisierung, Verdeutlichung, in den 10 Geboten findet. Diese definieren dem menschlichen Gewissen, das nicht zur Willkür verkommen ist, was ein objektives Gut, das zu suchen ist, und was vom Übel, was zu meiden ist. (Gut/Böse entsprechen nicht unbedingt dem rein menschlich subjektiven Richtig/Falsch!)

    Gerade dieses übergeordnete Universalrecht und die 10 Gebote legen die grundlegenden Pflichten des Geschöpfes dem Schöpfer gegenüber (Direktbezug) und der Geschöpfe untereinander (Indirekteinbezug des Schöpfers, des Gesetzgebers) fest und ermöglichen ein sittliches Vernunft- und Willensgeleitetes Leben der Familie, des Volkes etc. überhaupt.

    Dies galt bis zur Aufklärung mit ihrem Deismus, später Atheismus und noch später Antitheismus als das objektiv gültige sittliche Recht.

    Nun, an der Stelle fallen gerade notwendigerweise alle (A)gnostiker, Atheisten etc. ins bodenlose Nichts, weil Sie das Geschaffensein, ergo ein Verantwortungsverhältnis einem übergeordneten Schöpfergeist (causa prima) gegenüber, strikt ablehnen. Konsequenterweise führen die bereits zu Absatzbeginn genannten (Geistes)haltungen zum Subjektivismus, Autonomismus, Zerfall der Familien, Volkes, Staates und bereiten den Weg in den Totalitarismus vor. In den Totalitarismus deshalb, weil der ins Chaos abgeglittene Mensch seine persönliche mißverstandene und mißbrauchte Freiheit (Freiheit im Prinzip: die Möglichkeit sich für das Gute zu entscheiden) als Bedrohung wähnt und nach mechanischen starken übergeordneten Gesetzen bis in seine Gedanken hinein verlangt.

    Beste Grüße!

    Rafael

  3. fruuf sagt:

    “Auch wenn man nachweisen könnte, dass die Moral, die von gleichen Rechten für alle Menschen spricht, aus den Interessen der Schwachen, Unterdrückten und Unterprivilegierten hervorgegangen ist, wäre damit kein Einwand gegen die Richtigkeit dieser Moral formuliert.”—–

    Hier verwechselt Nietzsche nicht, hier ist Nietzsche seiner Erkenntnis treu.
    Das Beispiel der Herrenmoral im Vergleich zur Sklavenmoral (Jenseits von Gut und Böse – Zur Genalogie der Moral) Der Autor hat hier nicht konsequent der perspektivischen Erkenntnistheorie Nietzsches gedacht, sondern sich von vom Subjekt geschaffenen Werten wie “Richtig” im Sinne der Erkenntnis einer existierender Wahrheiten verleiten lassen. Nietzsche wird man hiermit meines Erachtens nicht gerecht. Seine Umwertung aller Werte geschieht aus der Erkenntnis des freien und selbstbestimmten Wesens, das Wesen des Übermenschen, dessen Bewusstsein nach dem Tod des Monotheismus sich selbst Moral wird.

  4. fruuf sagt:

    Erlaube mir noch darauf hinzuweisen, dass die meines Erachtens sehr treffliche Beschreibung der irrationalen Ansprüche des Feminismus m.E. hier nicht mit Nietzsche legitimiert werden können.
    Dieser Feminismus macht genau das mit der Moral, was von Nietzsche daran ritisiert wird. Er argumentiert aus der “Opferrolle des Schwächeren” auf der Basis einer Moral der Gleichmacherei, die die vermeintlich “Stärkeren” einer Rüchsichtslosigkeit bezichtigt, die nach ethisch-moralischen Konventionen (der westlichen Demokratiekultur) per se verwerflich sei und per Gesetz korrigiert werden müsse.

    Das ist natürlich die Instrumentalisierung einer Moral des Schwachen als Mittel zur Durchsetzung der eigenen Interessen – Mit Nichten als etwas, das sich aus Nietzsches Philosophie heraus legitimieren lassen könnte, zumal Nietzsche in seinem Werk die Meinung über das Weib und seine Stellung auch deutlich zum Ausdruck bringt.
    “„Alles am Weibe ist ein Räthsel, und Alles am Weibe hat Eine Lösung: sie heisst Schwangerschaft.” – Das dürfte wohl nichts sein, was der Feminismus bejahen wird.

    • Alexander Ulfig sagt:

      “Dieser Feminismus macht genau das mit der Moral, was von Nietzsche daran ritisiert wird. Er argumentiert aus der “Opferrolle des Schwächeren” auf der Basis einer Moral der Gleichmacherei …”
      Ja, das ist die Rhetorik des Feminismus, in Wirklichkeit geht es um die Durchsetzung einer Politik der Privilegierung für eh schon privilegierte Personen, einer Politik, die von mächtigen Lobbygruppen, betrieben wird.

  5. rote_pille sagt:

    guter artikel. in den schriften der liberalen nationalökonomen sieht man auch wie sie sich gegen nietzsches relativierung der moral wehren. dabei geht es auch um die behauptung der marxisten, dass die wissenschaft der nationalökonomie “bürgerlich” ist und ihre argumente nur “den interessen der herrschenden klasse dienen” würden. genau dasselbe behaupten die feministinnen, nur die nationalökonomie sind hier die allgemeinen sozialwissenschaften und die “herrschenden klassen” das “patriarchat”.

  6. waltomax sagt:

    Was ist denn diese “Höherentwicklung” des Lebens und welche Kriterien liegen einer solchen zugrunde?

  7. vonkorf sagt:

    Erstaunlich, völlig ausgeblendet bleibt doch hier der Gegensatz, der Widerspruch, als Antrieb aller (menschlichen) Dinge. Ein jeder selbst kann doch beobachten, dass alles widersprüchlich ist. Die Frage ist aber, wie wird damit umgegangen. Bekanntlich ist Kant mit seiner Pflichtethik gescheitert. Ganz einfach, weil persönliche Bedürfnisse, Interessen usw. Vorrang haben. Das ist heute nicht anders. War noch zu Zeiten feudalabsolutistischer Herrscher eindeutig, wer das Sagen hatte, sind heute diese (Herrschafts-)Verhältnisse anonym geworden. Es existieren Zwischeninstanzen wie eine Legislative. Gehen wir zum Beispiel in die USA. Dort finden wir aber keinen wirklichen Volksvertreter. Sondern lauter Leute, die das Interesse ihres „Standes“ wahrnehmen.

    • Leonard sagt:

      Warum benennen Sie nicht präzise den Argumentationspunkt, bzw. den Begriff, an dem aus Ihrer Sicht vom Autor Nicht-Identität (Widerspruch) mit der daraus folgenden Dialektik anstelle von Identität zu setzen wäre? Das wäre interessant, weil es ausgehend davon weitergedacht werden könnte.

  8. Lila Hart sagt:

    An sich wirklich toller, pointierter Text: Kompliment!

    Leider sind die beiden Schlussfolgerung stark verallgemeinernd bzw. ‘wertend’ und für mich persönlich kreuzfalsch.

    Abgelehnt wird imho in beiden Fällen eine fälschlich festgeschriebene ‘Essenz’ eines ‘Universalsubjekts’ mit idealtypisch teleologischer Entwicklung. In dem Sinne ist Nietzsches Abscheu gegen die ‘Schwachen, Missratenen’ nicht etwa (wie bereits im Dritten Reich voll und ganz missverstanden) als Sozialdarwinismus oder Eugenik zu verstehen, sondern als Verachtung von Mittelmass, Mief, Normalisierung, Durchschnitt, Bieder- und Kleinbürgerlichkeit. Es geht darum, sein Leben ‘in Fülle und aus dem Vollen’ zu leben, möglichst viel zu experimentieren, wagen, wachsen – also im Sinne eines kreativen, schöpferischen Werdensprozesses. Das hat mehr mit alter Mystik (z. B. den Gesetzen von Hermes Trismegistus oder eben dem titelgebeneden Zoroaster/Zarathustra) und der ‘vitalistischen’ Affektlehre von Heraklit und Spinoza zu tun, die eine ständige ‘Erweiterung’ der Sinne, Emotionen, Verknüpfungen anstrebt (also: ein immer dichteres Netzwerk / Rhizom). Das ist eine sehr ‘progressive’, ‘liberale’, d.h. freiheitliche Konzeption, keine faschistoide, die auf ‘unwertes Leben’ spuckt!

    Genauso geht es auch bei Foucault nicht im Geringsten (!) um Rechtfertigung von Macht oder gar Herrschaft, sondern darum, dass z.B. ‘Revolution’ und ‘Widerstand’ nicht sui generis / eo ipso, also ein für alle Mal bestimmt werden kann, sondern immer gegen die Macht- und Kräfteverhältnisse des ‘Diagramms’ der jeweiligen Zeit gesetzt werden muss – das, was Deleuze ‘Vektoren des Wunsches/Begehrens’ nennt, also strategisch in einem mehrdimensionalen Raum positioniert (ähnlich wie die feministische Standpunkttheorie, an der im Übrigen nix defensiv oder larmoyant ist, siehe z.B. Haraways Cyborg-Manifesto). Auch diese Konzeption beruht vor allem darauf, dem eigenen Handeln und der eigenen Entwicklung – kurz: der Existenz – eine gewisse, komplett ‘individuelle’ (also raumzeitlich singuläre) Ästhetik geben zu können, die sich aus der eigenen Positionierung/Bewegung ‘gegen’ bzw. innerhalb der Verhältnisse (Episteme/Wissensordnung, Dispositiv als materielle Blaupause, Diskurs als Streuung der Aussagen, Subjektivierung als Selbst-bezug etc.) ergibt. Das heisst also, Widerstand wäre vor allem ein ‘Negativ’ im Sinne eines Diapositivs oder Katalysator, der die Verhältnisse ‘umkehrt’ und damit verborgene oder exkludierte ‘Realitäten’ (Erfahrung, Ereignisse, minoritäres Wissen) ans Licht bringt.

    Das sind zwei wesentliche Merkmale und Schlüsse dieser Theorien und machen für mich auch ihren Reiz aus. (Dass beide auch ihre Ambivalenzen beinhalten und in mehrere Aspekten missverständlich bis problematisch sind, ist klar – darum halte ich es persönlich am liebsten mit Deleuze/Guattari, die für mich einen Schritt weitergehen und tatsächlich ein ‘nichthierarchisches/nonlineares Denken der Multiplizitäten ‘ ermöglichen (v.a. das für mich unerreichte Werk ‘Tausend Plateaus’, das viele eher schubladisierende Wertungen gewohnte ‘Schöngeister’ nicht verstanden haben – Künstler, Aktivisten und Revolutionäre dafür umso mehr…)

    Herzlich,

    x

    Lila

    • Alexander Ulfig sagt:

      “… möglichst viel zu experimentieren, wagen, wachsen – also im Sinne eines kreativen, schöpferischen Werdensprozesses.” Das ist eine Nietzsche-Interpretation, die heute “in” ist und auf die individuelle Selbstverwirklichung, auf den sog. “Selbstverwirklichungsindividualismus”, einen großen Wert legt. Ich habe im Artikel belegt, dass Nietzsches “Ethik der Vornehmheit” keine individualistische Ethik ist; vielmehr ist sie “Art-erhaltend” und “Art-züchtend”; sie rechtfertigt Sonderrechte für eine auserwählte Gruppe von Menschen, wendet sich gegen Demokratie und gleiche Rechte für Alle, wendet sich somit gegen heute akzeptierte Menschenrechte..
      Und warum spricht Nietzsche so verachtend, so menschenverachtend über die Anderen, die von ihm genannten “Schwachen”? Warum möchte er sie “nieder- und beiseitedrängen”? Ist es nur eine Rhetorik, die keine inhaltliche Bedeutung hat?
      ” …um Rechtfertigung von Macht oder gar Herrschaft …” Ich habe nicht geschrieben, dass Foucault bestimmte Macht und Herrschaft rechfertigen möchte. Ich habe aufgezeigt, dass sein Relativismus bezüglich allgemeingültiger Werte und Normen einer auf partikulare Interessen ausgerichteten Politik, einer reinen Machtpolitik Tür und Tor öffnet. Anders formuliert: Reine Machtpolitik ist m.E. die Konsequenz des oben genannten Relativismus.

      • fruuf sagt:

        Nietzsches Philosophie liegt m.E. die Aussage zugrunde, dass wir keine allgemeingültigen Werte oder Normen aufgrund der Begrenztheit unserer eigenen Erkenntnismöglichkeiten haben, sondern nur im Interesse allgemeiner Prinzipien der Macht und Entwicklung, der Natur und des Arterhaltes, Normen und Werte (auch ethische-moralische und religiöse) geschaffen haben. Hierbei ist es also der Wille zur Macht, der wenn er einem Stärkeren entgegensteht, sich dieser Mittel bedient. Sie sind somit nicht “moralisch”, altruistisch, sondern egoistisch, auch wenn man dies bis zur Unkenntlichkeit vor sich selbst verleugnet.

        Nietzsche fragt sinngemäß, was Nächstenliebe Wert sei im Vergleich zu Nächstenfurcht, da erstere doch beliebig, zweite aber absolut ist. Er schafft durch seine “Umwertung aller Werte” eine Realitätssicht, durch die Konditioniertheit von Haltungen und Überzeugungen, deren Existenz wir als natürlich oder als wesenshaft oder von Gott gegeben betrachten, die aber von seiner Betrachtungsgrundlage beobachtet doch auf einfache strukturelle Bedingtheit gründen. Ein Hindernis am Verständnis von Nietzsche besteht aus meiner Sicht darin, zu glauben, man hätte bei aller Freiheit des Geistes doch grundsätzlich unantastbare Werte. So lange man das glaubt sieht man sich eben immer noch in einer Art “Ebenbild der Gottheit”. Bei Nietzsche aber ist Gott tot, der Übermensch hat ihn überwunden und hat nun die Aufgabe sein eigener Gott zu sein.

        Somit kann Nietzsches Philosophie aus meiner Sicht als religiös-spirituelle Weiterentwicklung betrachtet werden.

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