Geschichte für Eliten?

Der Erste Weltkrieg wird wieder kontrovers diskutiert. Über die Kriegsschuldfrage und die implizierte Forderung nach Elitenherrschaft und nationaler Machtpolitik.

Westfront, deutscher Sturmpanzer

Bundesarchiv Bild 146-1971-092-24, Westfront, deutscher Sturmpanzer / CC-BY-SA-3.0-de

Zum 100. Jahrestag des Weltkriegsbeginns ist eine wahre Flut an historischen Publikationen über uns hereingebrochen. Darin sind, für Wissenschaft und Öffentlichkeit gleichermaßen, zahlreiche neue Erkenntnisse im Detail enthalten. Das ist sicherlich zu begrüßen. Mit Blick auf 2014 scheint aber neben dem gewachsenen Wissen noch mehr ein Wandel der Perspektiven und Interpretationen von Interesse zu sein. Im Gefolge des aufsehenerregenden Bestsellers von Christopher Clark [1] über die diplomatische Vorgeschichte des Krieges setzt sich gerade eine Deutung durch, die gleichermaßen antiquiert wie gegenwartsorientiert ist.

Antiquiert ist sie, weil sie wie weiland im 19. Jahrhundert den Fokus der Geschichtsschreibung erneut fast ausschließlich auf die »hohe Politik«, die Diplomatie und das Denken eines kleinen Kreises von Entscheidungsträgern richtet. Damit einher geht fast zwangsläufig eine Personalisierung der Historie: Die Gründe für Entscheidungen liegen dann nämlich vor allem in individuellen Charakterzügen und Handlungsakten, aber kaum noch in sozioökonomischen Entwicklungen und Interessenlagen. Und mehr noch: die handlungsleitenden Ängste aller Regierungen, die beispielsweise von Herfried Münkler stark betont werden, führen zu der Annahme, Irrationalität habe dem Kriegsausbruch zugrunde gelegen.[2] Das unterscheidet sich im Ergebnis dann nur noch geringfügig von Clarks schon im Titel enthaltener These, die führenden Köpfe Europas 1914 seien Schlafwandler gewesen.

Wer aber von Ängsten getrieben oder gar schlafwandelnd in einen Krieg »hineinschlittert« – so schon der britische Premier David Lloyd George kurz nach dem Krieg – der mag als Politiker vielleicht unfähig sein, aber eben nicht wirklich verantwortlich. Und wenn das für alle maßgeblichen Eliten in allen kriegführenden Ländern gilt, dann ist am Ende auch niemand schuldig geworden. Ein Weltkrieg aus Versehen sozusagen.

Es ist sehr bezeichnend, dass in diesen neuen Studien zum Weltkrieg langfristige innenpolitische, soziale und wirtschaftliche Spannungen so gut wie keine Rolle spielen. Genauso wenig übrigens wie der Widerstand gegen den Krieg nach seinem Ausbruch. Bei Münkler beispielsweise wird der große Massenstreik im April 1917 in Deutschland in einem einzigen Halbsatz abgehandelt. Die Fokussierung auf die „hohe Politik“ erfährt ihre Entsprechung also in der Ignoranz gegenüber tieferliegenden gesellschaftlichen Strukturen und sozialen Bewegungen „von unten“.

Dieser methodische Rückschritt in die Zeiten des Historismus wäre allein schon eine bemerkenswerte Tatsache. Seine eigentliche Brisanz erhält er aber durch die Verknüpfung mit den „Lehren“, die aus einer solchen Geschichtsbetrachtung gezogen werden. Eher implizit dient sie der Rechtfertigung einer mehr oder weniger autoritären Herrschaft der Eliten. Denn das „richtige“ Gegenmittel gegen schlafwandelnde Entscheidungsträger sind nicht etwa demokratische Massenbewegungen. Diese interessieren ja letztlich gar nicht. Vielmehr sind es eben rationale, „wache“ Entscheidungsträger.

Bei Münkler liest sich das dann so: Mit mehr „Weitsicht und Urteilskraft“ des politischen Spitzenpersonals hätte der Krieg vermieden werden können. Und weiter: dass die Julikrise 1914 im Krieg mündete und außerdem nach dem Scheitern der Anfangsoffensiven der Krieg nicht auf dem Verhandlungsweg beendet wurde, ist in erheblichem Maße auf den „Einfluss der Straße“ zurückzuführen. Also drängten die Massen zu einem Waffengang, den die Eliten eigentlich gar nicht wollten. Dieses Argument ist ebenso überraschend wie falsch. Denn es sollte doch mittlerweile zu den anerkannten Erkenntnissen gehören, dass sich die nationalistische Kriegsbegeisterung auf eine sehr überschaubare Bevölkerungsschicht beschränkte. Parallel zu den Jubelveranstaltungen fanden im Übrigen allein in Berlin Antikriegskundgebungen mit zehntausenden von Teilnehmern statt.[3] Ähnliches ließe sich über viele andere europäische Städte erzählen.

Man kann aber, wie einige Historiker um Sönke Neitzel demonstrieren, noch ganz andere Schlussfolgerungen aus dem Ersten Weltkrieg ziehen:

„Neuere historische Forschungen zu Ursachen und Verlauf des Krieges widersprechen der Vorstellung, wonach das Deutsche Reich durch sein Weltmachtstreben Großbritannien provoziert habe und in seiner Machtgier mit vereinten Kräften gestoppt werden musste. Diese Sicht aber liegt jenem Europakonzept zugrunde, demzufolge Deutschland supranational »eingebunden« werden müsse, damit es nicht erneut Unheil stifte. Die Vorstellung von der friedensstiftenden Wirkung der europäischen Einigung, insofern sie das Nationale überwindet, wie sie besonders in Deutschland verbreitet ist, beruht jedoch unserer Meinung nach auf falschen Prämissen. […] Das Ende des Kalten Krieges hat den Blickwinkel ebenso verändert wie das Heraufziehen eines stärker multipolar ausgerichteten und global dimensionierten Staatensystems mit unverkennbaren strukturellen Ähnlichkeiten zur Welt vor 1914. Das Gut-gegen-Böse-Schema des Ost-West-Konflikts gilt nicht mehr. Die Welt ist komplizierter und konfliktträchtiger geworden, wie wir nicht zuletzt im Bürgerkrieg in Jugoslawien in den 90er-Jahren gesehen haben. Uns scheint, dass diese Veränderung in Politik und Öffentlichkeit noch nicht angekommen ist. Sie fordert aber mehr denn je die realpolitische, nicht die moralische Antwort auf das Weltgeschehen.“[4]

Was heißt das nun, in praktische Handlungsanweisungen übersetzt? Wohl so viel wie eine Wiederbelebung des nationalistischen Kadavers aus dem Jahre – 1914. Weil „wir“ am Ersten Weltkrieg nicht schuldiger sind als alle anderen, ist auch die Schlussfolgerung, eine wirksame Überwindung des deutschen Nationalismus‘, falsch. Hinzu kommt dann noch die Diffamierung ausschließlich friedlicher Konfliktregulation als „moralisch“. Oder was heißt „realpolitisch“ in diesem Kontext anderes, als dass Krieg wieder ein legitimes Mittel der Politik sein soll? An anderer Stelle im gleichen Text liest sich das, wiederum verpackt in der Historie, dann so:

„Das Deutsche Reich war nicht »schuld« am Ersten Weltkrieg. Eine derartige Kategorie gab es bis dahin gar nicht, hatten doch dem Codex der europäischen Staatenkriege gemäß souveräne Staaten das »ius ad bellum«, sofern sie eine Verletzung ihrer Interessen begründen konnten.“

Wer solches fordert, öffnet alle Schleusen hin zu knallharter nationaler Machtpolitik, deren ultima ratio dann der Krieg ist. Oder glaubt irgendwer, eine wie auch immer geartete Begründung für eine „Verletzung ihrer Interessen“ ließe sich für aggressive Politiker nicht jederzeit finden? In mancher Hinsicht sagt die Betrachtung der Geschichte wohl mehr über den Betrachter aus als über den Gegenstand. Auch das ist eine mögliche Lehre aus der historischen Forschung zum Ersten Weltkrieg.

[1] Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. München 2013.
[2] Herfried Münkler: Der große Krieg. Die Welt 1914 – 1918. Berlin 2013.
[3] Axel Weipert: Das Rote Berlin. Eine Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung 1830 – 1934. Berlin 2013.
[4] http://www.welt.de/print/die_welt/politik/article123489102/Der-Beginn-vieler-Schrecken.html

Axel Weipert ist Historiker und führt das Online-Magazin das Dossier. Seine Dissertation ist als Buch erhältlich: Das Rote Berlin. Eine Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung 1830 – 1934. Berlin 2013.

Artikelbild: Bundesarchiv Bild 146-1971-092-24, Westfront, deutscher Sturmpanzer / CC-BY-SA-3.0-de

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