Offene Grenzen II: Ökonomisierte Verkürzung

Wem würden offene Grenzen eigentlich dienen? Und welche politischen Gruppierungen befürworten Sie? Vieles bleibt diffus. Die Antwort auf eine Replik.

Bild: Ralf Lotys / Wikimedia (CC BY 3.0) / Bearb.

Von Florian Sander

In Reaktion auf den kürzlich hier erschienenen Artikel zur libertären Forderung nach „offenen Grenzen“ wurde seitens des betreffenden Blog-Projektes und dessen Autor Hans-Joerg Walther kürzlich dankenswerterweise eine Antwort verfasst und veröffentlicht. Eine Reaktion auf die darin vorgebrachten Gegenargumente zu meiner Kritik soll an dieser Stelle selbstverständlich nicht ausbleiben. Es empfiehlt sich jedoch, erst die oben verlinkte Antwort zu lesen, um die nun folgende Reaktion in ihrem Argumentationsverlauf nachvollziehen zu können.

Dass man – wie Herr Walther anmerkt – auch aus linker Perspektive für offene Grenzen argumentiert, ist zweifellos richtig. Zwar müsste man dies im Ergebnis als eine nicht minder inkonsistente Haltung einstufen, jedoch aus anderen Gründen. Um die Debatte nicht zu überfrachten, soll dies als Bemerkung zu einer solchen politischen Stoßrichtung an dieser Stelle reichen.

Behalten wir den Blick auf die klassisch-liberale bis libertäre Denkrichtung bei. Ein konkretes, klar umrissenes, quasi politisch diskutierbares Gegenmodell zum Bestehenden findet man in seiner Antwort nicht wirklich. Das macht eine Replik an dieser Stelle nicht einfacher. Trotzdem soll hier auf die von Herrn Walther benannten Vorstellungen eingegangen werden.

Dass Nationalstaatlichkeit im Gegensatz zu ihrem Subsystem „Wohlfahrtsstaatlichkeit“ auch bei komplett geöffneten Grenzen grundsätzlich formal denkbar ist und offene Grenzen nicht zwingend mit einer komplett entstaatlichten, anarcholibertären Weltgesellschaft einhergehen müssen, ist sicherlich auch richtig. Nur ändert dies rein gar nichts am schon genannten Grundproblem, nämlich der Tatsache, dass auch ein Staat ohne jede sozialstaatliche Struktur die sozialstrukturellen Veränderungen, die ein Zustrom an Zuwanderern insbesondere aus Entwicklungsländern mit sich brächte, nicht auffangen könnte.

An diesem Punkt ist es immer wieder faszinierend, wie sehr das libertäre, pardon, das klassisch-liberale Spektrum und offenbar auch Herr Walther auf das Allheilmittel der Arbeitserlaubnis vertrauen, als sei dies gewissermaßen der Heilsbringer, im Zuge dessen für die Betreffenden plötzlich Milch und Honig zu fließen beginnen. Hier zeigt sich die immer wiederkehrende Verkürzung des libertären, pardon, klassisch-liberalen Denkens auf ökonomische Fragen bei gleichzeitiger, scheinbar kompletter Ausblendung sozialer Dynamiken.

Insofern nochmal die Frage: Was soll denn ein Flüchtling langfristig mit einer Arbeitserlaubnis anfangen, wenn er aufgrund seiner mangelnden Sprachkenntnisse, möglicherweise einer bei der betreffenden Gruppe nicht selten vorkommenden Traumatisierung und einem völligen – nicht verwunderlichen – Mangel an interkulturellen Kompetenzen gegenüber der Aufnahmegesellschaft keinen Job findet, der ihm auch nur ansatzweise sozialen Aufstieg ermöglicht? Wie soll ihm dieser soziale Aufstieg gelingen?

Herr Walther verweist nun verträumt auf Finanzierung durch „Kirchen“ und „wohltätige Organisationen“. Als ein Leser, der zugleich Mitglied eines kommunalen Jugendhilfeausschusses ist, fragt man sich, ob Herr Walther sich mal darüber informiert hat, wie die besagten Institutionen denn bisher ihre sozialen Maßnahmen finanzieren. Stichwort etwa: Kommunale Leistungsverträge. Glaubt Herr Walther denn allen Ernstes, Kirchen und Sozialverbände könnten ihre bisherige Arbeit ohne staatlich-kommunale Unterstützung auch nur annähernd in der bisherigen Form weiterführen – und dies auch noch bei einem durch offene Grenzen rasant steigenden Migrationsstrom? Wie soll dies in der Praxis funktionieren?

Auch der Verweis auf „die Bürger“ als Geldgeber ist dabei mindestens seltsam. Genau diese sind doch derzeit in der Pflicht! Was ist denn der Wohlfahrtsstaat anderes als eine kollektive Institution, die bestimmte finanzielle Mittel der Bürger bündelt, um sie dann dorthin fließen zu lassen, wo sie benötigt werden? Ein Libertärer, pardon, ein Klassisch-Liberaler wird nun vermutlich einwenden, dass es sich dabei ja eben um ein kollektivistisches Zwangsmodell handele, das problemlos durch Spendenorganisationen ersetzt werden könne und müsse – ein Argument, das man in Diskussionen wie diesen häufig zu hören bekommt.

Leider auch ein Argument, in dem abermals die schon einmal hier beklagte Weltfremdheit der libertären, pardon, klassisch-liberalen Ideologie zum Ausdruck kommt, da es einen wichtigen Aspekt komplett ausblendet: Die Notwendigkeit zu sicherer und vor allem langfristiger Finanzplanung. Wohlfahrtsorganisationen und auch Kirchen finanzieren ihre Aktivitäten nicht über gelegentliche Almosen von Bürgern, die einmal im Jahr, vielleicht zu Weihnachten, in eine philanthropische Gönnerhaftigkeit verfallen, sondern über verbindliche finanzielle Planung bei gleichzeitiger Einbeziehung der nötigen Prognosen zu aktuellen und kommenden sozialen Herausforderungen, sei es der Bedarf an Kinderbetreuung, Demografie oder Migrationsströme.

Das möchte Herr Walther alles ohne den Staat organisieren? Viel Glück. Zugleich gilt noch die obige Frage: Wie soll dem einzelnen Migranten bei diesen sozial-institutionellen Ausgangsbedingungen rein durch Arbeitserlaubnis der soziale Aufstieg gelingen, der ihm dann eine Kreditwürdigkeit verschafft, auf die die besagten, sich über gelegentliche freundliche Almosen „finanzierenden“ Sozialverbände und Kirchen sich einlassen können? Hier jagt fürwahr eine Träumerei die nächste.

Mitleidsloser Lakai des Großkapitals einerseits zu sein und sich andererseits als gutmenschlicher Weltverbesserer zu gerieren, ist leider nichts ungewöhnliches mehr, da die Interessen beider Seiten sich eben in nicht wenigen Dimensionen decken. Sei es im Bereich der Zuwanderung, die beide Seiten erhöhen wollen, im Feld der Europapolitik, wo sich Bankenretter mit supranationalen Idealisten verbünden oder in noch einigen anderen Bereichen, die deutlich vor Augen führen, dass die Identifizierung eines „grünen bis linksliberalen Mainstreams“ keine bloße paranoide Vision von Nationalliberalen und Konservativen ist. Zugleich weiß die erstgenannte Gruppe sehr genau, dass sie ihre Forderungen durch einen gewissen gutmenschlichen Duktus im nachweislich grünen deutschen Massenmediensystem anschlussfähiger machen kann. Ein solches, rhetorisch-strategisches Vorgehen scheint auch beim Offene-Grenzen-Blog klar sichtbar zu sein, wie der humanitär-pathetische Untertitel „Grenzen sind unmenschlich!“ deutlich macht.

In einem P.S.-Abschnitt am Ende seiner Replik geht Herr Walther auf einen Kommentar von mir ein, den ich unterhalb meines Artikels veröffentlicht habe, und wirft mir nach Nennung dreier verschiedener Optionen vor, ich würde mich für die am wenigsten humane Alternative der drei entscheiden. Auch diese Nennung der drei „Alternativen“ offenbart erneut ein Problem, das bereits oben angesprochen wurde: Die totale Reduktion sozialer Realitäten auf ökonomisch-finanzielle Verhältnisse bei gleichzeitigem kompletten Ausblenden soziokultureller Konfliktpotenziale.

Herr Walther behauptet, basierend auf seinen oben kritisierten Prämissen, offene Grenzen mit oder auch ohne staatliche Leistungen für eine bestimmten Migrantengruppe (Alternative 2 und 3) seien geschlossenen Grenzen mit staatlichen Leistungen für eine begrenzte Anzahl Migranten (Alternative 1) vorzuziehen, da hier ja Zwang und Freiheitseingriffe wegfielen und zugleich – dank Arbeitserlaubnis – für die Betreffenden der Wohlstand erhöht würde, im Vergleich zur Situation in den Herkunftsländern.

Letztere Annahme ist aus einer kurzfristig denkenden Perspektive unbestreitbar. Nur ist dies dann nicht mehr die Relation, um die es geht. Eben an diesem Punkt könnte eine weniger ökonomische und mehr soziologisch-sozialpsychologische Perspektive auf soziale Dynamiken Herrn Walther und seinen Kollegen nicht schaden: Der soziale Bezugspunkt, der Vergleichsmaßstab der Gruppe der Migranten wäre in diesem Falle sehr schnell nicht mehr die Situation im Herkunftsland, sondern die soziale Stellung der anderen Bevölkerungsgruppen in der Aufnahmegesellschaft. Plastischer und beispielhaft ausgedrückt: Im Blick ist dann nicht mehr der Bürgerkrieg im Herkunftsland, sondern das mal wieder neue Auto der deutschen Mittelschichtsfamilie ein paar Straßen weiter.

Verbunden mit der oben bereits aufgeführten, durch die Abschaffung sozialstaatlicher Strukturen geschaffenen und vor allem zementierten sozialen Ungleichheit ohne reale Aufstiegsmöglichkeiten für Migranten schafft dies eine Situation, in der kollektiver Sozialneid und soziale Konflikte florieren würden und erhöhter Kriminalität fruchtbaren Boden bereiten (Kriminalität übrigens, gegen die man sich in der anarcholibertären Gesellschaft nur durch private Sicherheitsdienste – sprich: viel Geld – wehren könnte, aber von einer Abschaffung der Polizei sehen Klassisch-Liberale ja dankenswerterweise noch gerade so ab).

Kurz gesagt: Die Inhumanität eines Staates, so es ihn denn überhaupt noch gibt, bemisst sich nicht so sehr immer nur an konkreten Freiheitseingriffen oder rein ökonomischen Rechten, sondern auch an der Frage, wieviel sozialen Ausgleich er innerhalb seiner Grenzen schafft und, vor allem, ob und wie dieser gesellschaftlich rezipiert wird. Im Ergebnis also ist Alternative 1 (s. o.) die humanste Alternative, da sie dieses zentrale soziale Erfordernis im Blick behält und nicht versucht, in einem falsch verstandenen Laissez-Faire-Liberalismus verschiedenste soziale Gruppen und Schichten der National- wie auch der Weltgesellschaft wie zwei Lokomotiven mit Höchstgeschwindigkeit aufeinander prallen zu lassen.

An diesem Punkt zeigt sich somit auch erneut die Praxisferne der libertären, pardon, klassisch-liberalen Vorschläge Herrn Walthers und seiner Kollegen, die wie er denken. Von kurzsichtiger Ökonomisierung durchdrungen, werden Dynamiken sozialer Interaktion nahezu völlig ausgeblendet und auf einem abstrakten Level liberaler Philosophie theoretisiert, ohne zu berücksichtigen, wie Menschen – und im übrigen auch Organisationen; s. Sozialverbände und Kirchen – sich in der Praxis verhalten (müssen). Wo hier also keine Heuchelei im Spiel ist, findet man notgedrungen Träumerei und Naivität.

Dies demonstriert nicht zuletzt, wie wichtig es ist, stets eine reine, einseitige Fokussierung auf Theorie oder Praxis zu vermeiden und stattdessen immer beide Facetten mit zu berücksichtigen. So führt die reine Praxis ohne jegliche Theorie (Ideologie, Denkmodell) mittelfristig zu einem pragmatisch-opportunistischem Programm Merkelscher Alternativlosigkeit, in der grundsätzlich alles und nichts irgendwie richtig und falsch sein kann, während die reine Theorie ohne jeglichen Praxisbezug zu der Träumerei führt, die wir in diesem beschriebenen Fall vor uns sehen.

Beides bleibt politisch wie übrigens auch soziologisch zutiefst unbefriedigend. Insbesondere dann, wenn die Theorie (die Ideologie, das Denkmodell) noch nicht einmal eine innere Konsistenz aufweist, wie dies beim Blog-Projekt „Offene Grenzen“ der Fall zu sein scheint, wo prinzipiell irgendwie so alles geht, solange man nur für offene Grenzen ist. Ein solcher Ansatz, der „Open-mindedness“ mit Diffusität verwechselt, wird immer spätestens dann scheitern, wenn er der Realisierungsoption näher kommt, da dann die inneren Inkonsistenzen aufbrechen. Aber dies ist wohl der Preis, wenn man „nach allen Seiten offen“ ist.

So wenig ich mir eine Realisierungsoption für diese Forderung wünsche, so wünsche ich dem „Offene Grenzen“-Projekt doch zumindest eines: Klarheit und Praxisbezug. Denn erst wenn dies erreicht ist, dürfte zumindest eine Anschlussfähigkeit im politischen Diskurs gegeben sein.

Der Artikel ist die gekürzte Fassung einer Replik, die der Autor auf seiner eigenen Webseite bereits veröffentlicht hatte.

Artikelbild: Ralf Lotys / Wikimedia (CC BY 3.0) / Bearb.

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3 Kommentare zu "Offene Grenzen II: Ökonomisierte Verkürzung"

  1. Systemfrager sagt:

    Der Artikel hat ein großes Problem:
    Was bedeutet hier klassisch-liberal?
    Lässt sich nicht entnehmen.
    Soll es die ökonomische Richtung Adam Smith … J. St. Mill sein,
    dann hätte der Verfasser große Kenntnisslücken, was diese – ich bezichne sie als – Frühliberalen geschrieben und gemeint haben.
    Aber gut. Wie gesagt.
    Der Autor ist zumindest unklar.

  2. Systemfrager sagt:

    Teilweise geht noch der ethisch begründete und human orientierte Liberalismus von Adam Smith über J. St. Mill zum Alfred Marshall über, dann verliert er sich für immer.
    PS
    Nach Marshall spaltet sich die “bürgerliche Öknomie” auf extrem-angebotstheoretische und nachfrageorientierte
    Interessant:
    Diese Tendenz ist schon am Anfang des 19. Jh sichtbar, Angebotstheorie (Say, Ricardo, Marx) versus Nachfragetheorie (Sismondi, Malthus)
    Und ich wage es zu prphezeien:
    Wir stehen wieder vor einem neuen Gefecht zwischen diesen zwei Richtungen. Die neoliberalen Schurken und Ganoven wollen dies verstecken hinter der angeblichen Auseinandersetzung zwischen dem “autoritären” und “demokratischen” Kapitalismus. Aber:
    „Man kann alle Menschen eine gewisse Zeit und gewisse Menschen die ganze Zeit, aber niemals alle Menschen die ganze Zeit täuschen.“ Abraham Lincoln
    (Die sogenannten “Putinversteher” sind eine Symptom dafür … Es tut mir gut: Man beginnt auf Deutsche allmählich fast stolz zu sein.)

  3. Hanz sagt:

    Rechte Gülle. Statt dieses ellenlangen Geschwurbels hätte der Autor auch einfach ein paar NS-Parolen (“Gemeinnutz geht vor Eigennutz!”, “Du bist nichts, der Staat ist alles!”) reproduzieren können. Inhaltlich hat er’s ja getan.

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