Wohlstand für alle

Aufschwung mit Lohnzuwachs

Seit der Wiedervereinigung hat Gesamtdeutschland zwei konjunkturelle Aufschwungphasen durchlebt. Gemessen am realen BIP begann der erste gesamtdeutsche Konjunkturaufschwung in 1993. In der ersten Teilphase von 1993 bis 1996 war die Konjunkturdynamik allerdings so schwach, dass keine positiven Beschäftigungseffekte am gesamtdeutschen Arbeitsmarkt ausgelöst wurden. Eine Wachstumsbeschleunigung von 1997 bis Anfang 2001 reichte jedoch aus, rund 2 Millionen neue Arbeitsplätze in diesem Aufschwung zu schaffen. Zum Vergleich: Der erste neoliberale Konjunkturaufschwung in Deutschland von 2003 bis 2008 war dagegen in seiner Arbeitsplatzwirkung mit einem Nettobeschäftigungszuwachs von „nur“ 1,7 Mio Arbeitsplätzen wesentlich erfolgloser.

Im ersten gesamtdeutschen Aufschwung ist die ökonomische Leistung – gemessen am realen BIP – um 15,2 Prozent gewachsen. Dabei hat die reale Inlandsnachfrage um 15,1 Prozent zugelegt und der reale private Konsum sogar um 16,7 Prozent. Auch wenn das hohe Exportwachstum von real 88 Prozent durch ein hohes Importwachstum (76 Prozent) in seiner Wirkung auf das reale BIP massiv gedämpft wurde, stand dieser Konjunkturaufschwung auf zwei soliden Beinen: Dabei war das erste Standbein ein solider Außenbeitrag (Exporte minus Importe) von rund 2,5 Prozent am gesamten realen BIP, der einen Wachstumsbeitrag von 16,5 Prozent bewirkte.

Das zweite Standbein war eine solide wachsende Inlandsnachfrage. Mit einem Anteil am realen BIP von 97,5 Prozent leistete sie im ersten gesamtdeutschen Konjunkturaufschwung einen Wachstumsbeitrag von gut 84 Prozent. Dabei konnte die Inlandsnachfrage solide wachsen, da der private Konsum als wichtigste Einzelkomponente der Endnachfrage mit rund 57 Prozent am realen BIP durch steigende Realeinkommen in allen Bevölkerungsschichten breit unterstützt wurde und dadurch einen Wachstumsbeitrag von 54,5 Prozent leistete.

Die Schwäche neoliberaler Konjunkturpolitik

Welchen Kontrast bietet dazu der jüngste neoliberale Konjunkturaufschwung in Deutschland, der im ersten Quartal 2008 zu Ende ging. Er stand von Anbeginn nur auf einem Bein, nämlich dem Exportbein. Der reale Außenbeitrag erhöhte sich auf rund 8,5 % des realen BIP. Diese 8,5 Prozent waren für 57 Prozent des gesamten Wirtschaftswachstums in dieser Zeit verantwortlich, während die Inlandsnachfrage (realer BIP-Anteil 91,5 Prozent) nur zu 43 Prozent zum Wachstum beitrug.

Zum politischen Hintergrund: Ein zu Beginn dieses Jahrzehnts über längere Zeit aufgebauter permanenter öffentlicher Meinungsdruck neoliberaler Ökonomen und Politiker mit dem Ziel, um über Lohnzurückhaltung das vermeintliche „Hochlohnland“ Deutschland international wieder wettbewerbsfähig zu machen sowie neoliberale Arbeitsmarktreformen verfehlten nicht ihr angebotsseitige Wirkung, die Lohnstückkosten in Deutschland zu senken.

Der Preis für diese einseitige Angebotspolitik waren stagnierende bzw. fallende Realeinkommen für breite Bevölkerungsschichten. Als Folge ist der reale private Konsum, die größte Komponente im Bruttoinlandsprodukt (BIP), im Konjunkturaufschwung von 2003 bis 2008 nur im 0,5 Prozent gewachsen, während das reale BIP im gleichen Zeitraum um insgesamt 10,4 Prozent zugelegt hat.

Eine solchermaßen schwache Entwicklung des privaten Konsums hat es zuvor noch nie in einem Konjunkturaufschwung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gegeben! Die Zentralthese neoliberaler Beschäftigungspolitik, wonach eine zurückhaltende Lohnpolitik zwar vordergründig die Kaufkraft des einzelnen Bürgers bremst, über die Schaffung neuer Arbeitsplätze jedoch die gesamte reale Kaufkraft eines Landes so stark steigert, dass letztlich der private Konsum kräftige Impulse erfährt, muss aufgrund der Erfahrungen im zweiten gesamtdeutschen Konjunkturaufschwung als empirisch nicht haltbar zurückgewiesen werden!

Niedriglohn und Konsumflaute

Warum ging die zentrale neoliberale Beschäftigungsformel in Deutschland nicht auf, wonach Lohnzurückhaltung oder gar Lohnsenkung durch die Schaffung neuer Arbeitsplätze den privaten Konsum stimuliert? Die Antwort ist sehr einfach. Die Reallohnkürzungen für die Mehrzahl der Bundesbürger waren in der gesamtwirtschaftlichen Summe deutlich größer als die Realeinkommenszuwächse durch Neueinstellungen. Als Folge sind die Realeinkommen von rund 60 Prozent der deutschen Bevölkerung im jüngsten Konjunkturaufschwung teilweise kräftig gefallen.

Diese Einkommensentwicklung steht im krassen Gegensatz zum ersten gesamtdeutschen Konjunkturaufschwung von 1993 bis 2001. In diesem Zeitraum sind die Nettorealeinkommen noch über alle Einkommensklassen hinweg um beachtliche 7,5 % gestiegen. Fallende Realeinkommen für breite Bevölkerungsschichten waren noch nie hilfreich für eine Stimulierung des privaten Konsums.

Im Niedriglohnsektor der Bundesrepublik Deutschland ist es zumindest in den ersten Jahren (neuere Zahlen liegen noch nicht vor) des neoliberalen Konjunkturaufschwungs von 2003 bis 2008 nicht nur zu realen, sondern sogar auch zu kräftigen nominalen (!) Lohnsenkungen gekommen. So sind allein in Ostdeutschland von 2004 bis 2006 die durchschnittlichen Nominallöhne im Niedrigsektor um 11,3 Prozent gefallen. In Westdeutschland waren es immerhin noch 5 Prozent. Die Bezieher niedriger Einkommen haben in aller Regel die höchste Konsumquote in einer Wirtschaft. Sie dürfte bei vielen einkommensschwachen privaten Haushalten in Deutschland bei fast eins liegen, wodurch deren Ersparnis gleich null wird. Wer bei diesen Personengruppen die reale Kaufkraft nachhaltig schwächt, muss mit rückläufiger Konsumnachfrage rechnen.

Durch neoliberale Arbeitsmarktreformen bewirkte Lohnsenkungen in vielen Bereichen der deutschen Wirtschaft haben natürlich zur Folge, dass der Niedriglohnsektor expandiert. Umfasste der Niedriglohnsektor in Deutschland zum Ende des ersten gesamtdeutschen Konjunkturaufschwungs im Jahre 2000 noch 17,5 Prozent aller Erwerbstätigen, so waren es im Jahre 2006 in Deutschland schon 22,2 Prozent oder rund 6,5 Mio Beschäftigte. Die Ausweitung des Niedriglohnsektors durch ungebremste Lohnsenkung schafft in einer Gesellschaft mehr Armut und weniger Wohlstand. Dies ist genau das Gegenteil von dem, was Wirtschaftspolitik eigentlich leisten soll.

Ein konjunktureller Aufschwung, der nur auf einem Bein – nämlich dem Exportbein- steht, ist natürlich anfälliger gegenüber Schocks aus der Weltwirtschaft als ein Konjunkturaufschwung, der sowohl von der Inlands- als auch von der Auslandsnachfrage getragen wird. Diese simple Erkenntnis wird Deutschland vermutlich noch bitter zu spüren bekommen. Nun rächt sich der neoliberale wirtschaftspolitische Strategiefehler, primär über Reallohnsenkung neue Arbeitsplätze schaffen zu wollen. Die Folge dieser neoliberalen Angebotsstrategie waren fünf Jahre Stagnation in der realen privaten Konsumnachfrage und damit verbunden fünf Jahre einseitiger Exportlastigkeit im Wirtschaftswachstum.

Auf einem Auge blind

Der große US-Ökonom P. Samuelson hat einmal sinngemäß gesagt, dass der liebe Gott den Ökonomen zwei Augen geschenkt habe. Eines für die Angebots- und eines für die Nachfrageseite. Neoliberale deutsche Ökonomen und Politiker haben sich insbesondere seit Anfang dieses Jahrtausends im blinden Vertrauen auf das Say´sche Gesetz allein auf ihr Angebotsauge verlassen.

Die letzten 30 Jahre neoliberaler Wirtschaftspolitik in den westlichen Ländern haben eines deutlich werden lassen: Neoliberale Wirtschaftspolitik wirkt wie ein sozialer Spaltpilz. Sie führt zwangsläufig zu einer massiven Ausweitung der Kluft zwischen Arm und Reich. Der Neoliberalismus kann mit seinem ausschließlichen Vertrauen auf den Markt das zentrale Anliegen der Wirtschaftspolitik, nämlich Wohlstand für alle zu schaffen, nicht erfüllen.

Wohlstand für alle ist nur möglich mit einem starken Staat, der über aktive Distributionspolitik in Form einer progressiven Einkommenssteuer und staatlicher Mindestlohnpolitik für eine gleichmäßigere Verteilung des von allen geschaffenen gesellschaftlichen Wohlstands sorgt. In der Wirtschaftstheorie verlangt dies eine moderne Form der Rückbesinnung auf Keynes, wie dies im Neukeynesianismus derzeit geschieht. In der Wirtschaftspolitik verlangt dies eine Abkehr vom US-Neoliberalismus und eine moderne Form der Rückbesinnung auf den deutschen Ordo-Liberalismus und die soziale Marktwirtschaft im Sinne von Müller-Armack.

Nach dem offenkundigen Scheitern des US-Neoliberalismus in der Finanzkrise 2008 bleibt für die Zukunft nur noch eine Hoffnung auf dem Weg zum Wohlstand für alle im Rahmen des Kapitalismus, nämlich eine echte soziale Marktwirtschaft, in der der Staat – im Gegensatz zum Konzept des US-Neoliberalismus – eine starke ordnungs- und stabilitätspolitische Rolle spielt.

Niemand kann jedoch heute mit Sicherheit sagen, ob sich vor dem Hintergrund der Globalisierung in Zukunft allein durch nationale Wirtschaftspolitik noch eine soziale Marktwirtschaft gestalten lässt, in der Wohlstand für alle keine Utopie, sondern gelebte Realität ist. Das wachsende globale Angebot an Billigarbeit macht es Nationalstaaten wie Deutschland in Zukunft vermutlich immer schwerer, den Wohlstand für alle Bürger zu steigern. Mit Blick auf die aktuelle Systemkrise des Kapitalismus und im Rückblick auf die letzten 30 Jahre lässt sich mit Sicherheit derzeit nur eines eindeutig sagen: Der US-Neoliberalismus ist nicht die Lösung, sondern das Problem auf dem Weg zum Wohlstand für alle in einer sozialen und humanitären Gesellschaftsordnung.

Prof. Dr. Johannes Müller lehrt an der FH Hannover Volkswirtschaftslehre. Seine Arbeitsgebiete sind Internationale Kapitalmärkte und Makroökonomie.

 

Print Friendly, PDF & Email
Filed in: Ökonomie Tags: , , , , , , , , ,

Ähnliche Artikel:

<span style='font-size:16px;letter-spacing:1px;text-transform:none;color:#555;'>Establishment</span><br/>Trump und das Eherne Gesetz der Oligarchie Establishment
Trump und das Eherne Gesetz der Oligarchie
<span style='font-size:16px;letter-spacing:1px;text-transform:none;color:#555;'>NAFTA, CETA und TTIP</span><br/>Wie frei ist der Freihandel? NAFTA, CETA und TTIP
Wie frei ist der Freihandel?
<span style='font-size:16px;letter-spacing:1px;text-transform:none;color:#555;'>US-Wahlkampf</span><br/>Donald Trump – Im Zweifel die bessere Wahl? US-Wahlkampf
Donald Trump – Im Zweifel die bessere Wahl?

22 Kommentare zu "Wohlstand für alle"

  1. Es ließe sich darüber streiten, ob ein Herr Reithofer, Topmanager bei BMW, für seine 6,2 Mio. Euro Jahresgehalt genug gearbeitet hat, doch wenn es sich für BMW rechnet, sei es ihm gegönnt. Allerdings lässt sich nicht darüber streiten, dass die Familie Quandt, Hauptaktionär bei BMW, für ihre 650 Mio. Euro Rendite, die sie 2011 abkassierte, gar nicht gearbeitet hat.

    Sinkende Reallöhne im Verhältnis zum BIP gibt es in Deutschland schon seit den 1970er Jahren. Siehe “Nettolöhne in % BIP” der Darstellung 2 im folgenden Artikel:

    http://www.swupload.com/data/Geld-Geldmengen-Geldillusionen.pdf

    Die Ursache sind die exponentiell ansteigenden Kapitaleinkommen auf Kosten der Mehrarbeit anderer, die sowohl von der “hohen Politik” als auch von der “etablierten” VWL stets “übersehen” werden:

    Der blinde Fleck der Volkswirtschaftslehre
    http://opium-des-volkes.blogspot.de/2011/11/der-blinde-fleck-der.html

    Eine “Schuld” daran hat niemand, zumindest kein einzelner Wirtschaftsteilnehmer. Die Misere resultiert allein aus einem religiös bedingten, allgemeinen Unverständnis gegenüber der grundlegendsten zwischenmenschlichen Beziehung, dem Geld:

    Geld – wie es (noch) ist und wie es sein soll
    http://opium-des-volkes.blogspot.de/2012/10/geld.html

  2. Sebastian Müller sagt:

    Man sollte bei allen Fakten zu der Wirtschaftspolitik Bill Clintons einen weiteren Fakt nicht vergessen: Unter seiner Ägide wurde 1999 der Glass-Steagall-Act aufgehoben, was mit ein Grund für die spätere Finanzkrise ist. Wie man sieht, war auch Clinton nicht von neoliberalen Beratern befreit. http://de.wikipedia.org/wiki/Glass-Steagall_Act

  3. Don M. Tingly sagt:

    nimmt man zu diesen fakten noch die argumente Collin Crouch’s über den einfluss der konzerne/geldeliten auf die politik, drängt sich doch unmittelbar die frage auf: wie soll dieser prozess jemals wieder umgekehrt werden?

    ein system das einseitig das oberste vermögens-quintil bevorzugt, es immer reicher macht, ihm dabei aber zusätzlich via lobbyismus, parteispenden etc. beinahe uneingeschränkte macht über die politischen entscheidungsträger einräumt, ist ja eigentlich bereits eine plutokratie.

    ich würde die USA (und vermutlich auch UK) auch bereits als solche bezeichnen.

    woher soll also der impuls zur geforderten rückkehr zu ordo-liberalen grundsätzen kommen?
    wie soll die bewusste unterminierung der bildung via gebühren, verwahrlosung öffentlicher schulen, verflachung öffentlich-rechtlicher medien etc. aufgehalten werden?

    wer erklärt den mittelständischen anhängern der tea-party-bewegung, dass sie ihre eigenen schlächter wählen?

    ich lese allüberall durch die gesamte blogger-szene ähnliche befunde betreffend unser westliches wirtschaftssystem.
    allein: wo bleiben die konkreten vorschläge, wie daran etwas zu ändern ist?

    mit fünf zelten vor der EZB in Frankfurt?

    einer demo mit deutschlandweit weniger teilnehmern, als die all-samstägliche narkose genannt fußball-bundesliga?

    oder alle vier jahre mit einem kreuzchen bei Oskar und Sarah?

    das ist alles zu wenig! wir brauchen eine umfassende änderung kollektiven bewusstseins. die schreiende ungerechtigkeit, die ausbeuterische struktur und die mangelnde nachhaltigkeit unseres wirtschaftssystems müssen in die köpfe. und das am besten anstelle von werbeslogans, verschwurbeltem polit-sprech und dünnbrett-reality-soaps.

    • pabst von ohain sagt:

      @don m. tingly
      wie könnte man ihre meinung einem breiteren publikum näher bringen. schreiben sie doch mal einen offenen brief an angela merkel. die antwort, falls sie eine bekommen, wäre doch sehr aufschlußreich. sonst bleibt nur noch die piratenpartei, die suchen noch eine linie ihrer politik . im wahlkampf könnte man ein paar leute erreichen um ihre ideen publik zu machen.
      Kreuze bei oskar und sarah werden nicht viel bringen.

  4. Sebastian Müller sagt:

    Was kaum thematisiert wird, ist, dass wir auch eine Bewusstseinsänderung bei den Eliten selbst brauchen. Gerade sie müssten begreifen, dass sie sich mit der Politik der kollektiven Prekarisierung langfristig ins eingene Fleisch schneiden – denn diese wird irgendwann zu einer Destabilität führen, die auch zum Nachteil der wenigen Reichen führen wird.

    • Karin D. sagt:

      Es fängt doch schon an. Noch nie in der Geschichte meiner Stadt wurden so viele Läden, Tankstellen, Apotheken usw. überfallen wie heute.
      Woran liegt es? Miete zahlen? Voller Kühlschrank?
      In diesem Zusammenhang sollten wir neben der Beschaffungskriminalität auch noch die Überlebenskriminalität thematisieren.
      Denn sonst wird es schlimmer werden, wenn wir immer mehr Menschen abhängen zu Wohle von immer weniger Menschen.

    • Dr. Wo sagt:

      Bevor den Reichen irgendetwas ins eigene Fleisch schneidet, wird die übrige Bevölkerung noch erheblich Not leiden. Frühestens dann wird irgendwer oder irgendetwas den Reichen “ins Fleisch schneiden”.

  5. Don M. Tingly sagt:

    eine elitäre bewusstseinsänderung etwa im sinne einer “revolution von oben” schließe ich aus.
    eine klasse, die ihre position über viele generationen durch rigorosen egoismus und einen beinahe schon psychopathischen mangel an empathie erreicht hat, wird weder innerhalb einer, noch über mehrere generationen dazu fähig sein.

    im gegenteil: im zuge ihrer klassen-inzestuösen abschottung, geben diese menschen ihre a-sozialen einstellungen nahtlos an folgende generationen weiter. kontake bestehen von der krabbelgruppe an, ausschließlich zur eigenen peer-group. später nennt sich das dann “netzwerk”. neokonservative und inhumane werte werden permanent reproduziert und sozial stabilisiert.

    ein kritisches in-frage-stellen des eigenen lebens und seiner grundlagen findet zu keiner zeit statt. das kapitalistische weltbild durchdringt buchstäblich mit der muttermilch jede pore.

    man kann dieses phänomen sehr schön beobachten, wenn man sich die aussagen der jugendlichen trader vor den US-ausschüssen zum thema subprime-krise ansieht. da verteidigen juvenile mit-zwanziger ihr verhalten vor und während des zusammenbruchs mit einer ganz natürlichen selbstverständlichkeit. das leid und elend von millinonen geschädigter, gehört für sie einfach zum “spiel”.

    nein. die sind noch nicht mal zynisch. denn zynismus würde ja das wissen um das falsche am eigenen tun voraussetzen. dieses bewusstsein ist aber in universitärer und unternehmerischer sozialisation vollkommen abtrainiert worden.

    zynisch sind höchstens noch ein paar ältere herren an der spitze (Blankfein, Paulson et al.), die Milton Friedman noch persönlich kannten und damit eine ära, in der der totale kapitalismus noch nicht die jederzeit erlebte wirklichkeit war.

  6. ernte23 sagt:

    @Sebastian Müller: Warum sollte eine Politik der weiteren Prekarisierung zum Nachteil der Reichen sein? Dann schaffen sie sich halt Wachmannschaften und -gerätschaften an! Wenn diese ausreichend entlohnt werden, sind sie loyaler als die staatliche Polizei. Das einzige, was dem/r ein oder anderen daran aufstoßen könnte, wäre das Leben im goldenen Käfig, abgetrennt von der „normalen” Welt, was aber bei weitem nicht alle aus dieser Sphäre stören dürfte.

    @Don M. Tingly: Mir geht es ähnlich, dass die paar kritischen Menschen, die es überhaupt gibt, irgendeinen Zugang zur nicht-denkenden Mehrheit finden müssen. Die einzige Chance sehe ich auf der kulturellen Ebene und dem damit verbundenen Aufzeigen, dass unsere gegenwärtige von der Ökonomik geprägten Verhaltensmuster eben nicht optimal sind, uns eher ins Unglück stürzen. Dabei muss ich immer an die Paraphrasierung von Emma Goldmann über die russische Revolution denken: „If I can’t dance I don’t want to be part of your revolution!”

  7. Dr. Wo sagt:

    “Zweite Kernthese: Echte soziale Marktwirtschaft kann nur funktionieren bei einem fairen Interessensausgleich zwischen Arbeit und Kapital. Sobald eine Seite in der marktwirtschaftlichen Ordnung strukturell die Übermacht gewinnt, sei es Kapital oder Arbeit, kommt es zwangsläufig zu einer Wohlstandsvernichtung.

    Bildlich kann man sich die Kapital- und Arbeitnehmerinteressen wie Planken auf einer Autobahn vorstellen, zwischen denen eine marktwirtschaftliche Ordnung im historischen Zeitablauf schwankt. Die Schwankungen werden dabei durch das permanente Zerren von Kapital- und Arbeitnehmerinteressen an der marktwirtschaftlichen Ordnung ausgelöst und spiegeln damit die sich ändernden Kraftverhältnisse dieser Interessenspole wieder. Wohlstand für alle entsteht nur längerfristig, wenn es zu einem Gleichgewicht der Interessenspole kommt.”

    Diese These ist irreführend, weil sie nicht deutlich macht, ob ein Interessengegensatz zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern oder einer zwischen Arm und Reich gemeint ist.

    Seit Jahrzehnten wird bei solchen Formulierungen der Interessengegensatz zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern verstanden, der aber mit dem Scheitern des Ziels “Wohlstand für alle” nichts zu tun hat. Das Scheitern dieses Ziels kann man nur verstehen, wenn man den Interessenkonflikt zwischen Arm und Reich vor Augen hat: http://meudalismus.dr-wo.de/html/sozialpartner.htm

  8. “Echte soziale Marktwirtschaft kann nur funktionieren bei einem fairen Interessensausgleich zwischen Arbeit und Kapital.”

    Unsinn. Die echte Soziale Marktwirtschaft wurde nie verwirklicht:

    http://opium-des-volkes.blogspot.de/2012/08/personliche-freiheit-und-sozialordnung.html

    Es wurde übersehen, dass der eigentliche Beginn der menschlichen Zivilisation erst dann zu verwirklichen ist, wenn die reale Angst vor der bevorstehenden Auslöschung unserer gesamten “modernen Zivilisation” durch die globale Liquiditätsfalle (Armageddon) insgesamt größer wird als die seit Urzeiten eingebildete Angst vor dem “Verlust” der Religion:

    http://www.swupload.com//data/3-Verwandlungen.pdf

  9. Umdenker sagt:

    Ob wir eine echte soziale Marktwirtschaft schon hatten oder erst noch herstellen müssen, ich wage die These, dass beides nur eine Aufschiebung unserer Probleme bedeutet und nicht deren Lösung. Nur weil wir den Wohlstand besser verteilen, ändert es doch nichts an den Paradoxa des Kapitalismus.

    Wie soll es z.B. ressourcen- und umwelttechnisch funktionieren, wenn wir den Wohlstand nun rasch für alle steigern und in die reiche Konsumwelt einbinden? Wie sollen Kräfte der Kapitalakkumulation verhindert werden (auch mit direkten wie indirekten genialen Steuermodellen wird es immer den Drang bestimmter Akteure geben absolut mehr zu besitzen als Andere und somit entsteht auch automatisch machtpolitischer Einfluss dieser Gruppen. Schaffen sie es nicht auf legale, dann eben auf illegale oder zumindest illegitme Weise, durch z.B. Einflussnahme auf die Legislative). Die “soziale Marktwirtschaft” ist zwar eine milde und möglichst sanfte Form des Kapitalismus, es verschafft uns also richtig angewandt viel Zeit, aber es wird niemals dem System inherente bestimmte Paradoxa aufheben.

    • Don M. Tingly sagt:

      vollkommene zustimmung.

      jede gesellschaftsform, die prinzipiell unbegrenzte kapitalakkumulation zulässt wird relative machtungleichgewichte produzieren, die wiederum genutzt werden, die akkumulation durch einzelne zu erleichtern – auf kosten anderer.

      genau das haben wir doch in D erlebt. in nicht einmal zwei generationen ist aus einer relativ homogenen nachkriegsgesellschaft mit ordoliberaler, sozialer marktwirtschaft eine zerissene, neoliberale ellbogengesellschaft geworden.

      wenn wir eine nachhaltige, friedliche gesellschaft wollen, brauchen wir zunächst eine enteignung von vermögen oberhalb eines wertes, der auch künftig als vermögensobergrenze dienen muß. die wirtschaft muß regional subsidiär, kleinteilig und mit fairen handelsbeziehungen organisiert werden.

      es bedarf einer beweislastumkehr bezüglich der nachhaltigkeit jeder wirtschaftlichen unternehmung. im zweifel hat diese zu unterbleiben. die menschen brauchen freien zugang zu lebensmitteln, wohnung, kleidung, bildung und medizinischer versorgung.

      notwendig ist dazu allerdings ein totaler bewusstseinswandel: weg vom konsumismus heutiger ausprägung, hin zu einem holistischen, bescheiden(er)em, empathischen weltbild, das der natürlichen begrenztheit unseres planeten und dem recht auf glück jedes menschen rechnung trägt.

      und nein. das bedeutet kein zurück zur steinzeit. auf dem weg sind wir jetzt.

  10. “Ob wir eine echte soziale Marktwirtschaft schon hatten oder erst noch herstellen müssen, ich wage die These, dass beides nur eine Aufschiebung unserer Probleme bedeutet und nicht deren Lösung.”

    Lesen müsste man können – oder wollen. Aber machen Sie sich nichts daraus – es gibt noch sehr viele Patienten wie Sie, die keine blasse Ahnung haben und sich dennoch einbilden, sie wüssten schon was:

    http://opium-des-volkes.blogspot.de/2012/08/behandlung-eines-privatpatienten.html

  11. ernte23 sagt:

    Ordoliberalismus ist eher die deutsche Spielart des Neoliberalismus, die eben den Markt in der vollkommenen Konkurrenz oder zumindest einen Näherungszustand anstreb(t)e. Sozial ist in ihrer – der ursprünglichen – Lesart die soziale Marktwirtschaft in dem Sinn, dass der Markt die sozialen Beziehungen der Gesellschaft regeln sollte, hat also nichts aber auch gar nichts mit Gemeinwohlorientierung zu tun. Der Staat ist in der Hinsicht gefordert, die Unternehmen zu überwachen, ob sie auch brav miteinander konkurrieren. Darin besteht der Unterschied zum angelsächsischen Neoliberalismus, der Konzentrationsprozesse für den Preis der Freiheit hält. In der Tat, ist ein zur Konkurrenz antreibender Wirtschaftsüberwachungsstaat eine etwas paradoxe Vorstellung…

  12. ernte23 sagt:

    Wollte meinen Kommentar auch gar nicht als Antwort auf Freiwirtschaft verstanden wissen, sondern zur Begriffsklärung über Ordoliberalismus beitragen.

    Wo ich gerade dabei bin: Was die Freiwirtschaft anbelangt, bin ich mir nicht sicher, inwieweit die Analyse nicht etwas zu kurz greift. Die Abschaffung des Zinses allein wird noch keine Änderung der Verhältnisse mit sich bringen, wird die Frage nach den Überflüssigen, die die zunehmende Automation hervorbringt, auch nicht abschließend beantworten können.

    • Sebastian Müller sagt:

      In der Tat, weder fußt die Zinskritik auf einer realisierbaren Grundlage, noch würden sich alleine damit die komplexen Probleme des Kapitalismus lösen lassen.

    • Karin D. sagt:

      Eine Änderung der Verhältnisse würde nur durch eine Revolution stattfinden.
      Leider sind die Menschen in D. zu verblödet worden für so etwas. Tittitainment, Brot und Spiele und wenn sie kein Brot mehr haben essen sie halt Kuchen.
      Nur, man kann es anhand der Geschichte sehen, erwischt man nie alle die für den Mist verantwortlich sind.
      So geschieht es in Afrika Jahrzehnt um Jahrzehnt. Einer schreit sich Freiheit auf die Flagge, nur um einen bekloppten Despoten durch einen noch bekloppteren zu ersetzten. Aber auch dort ändert sich z.Z. etwas. Auch dort blicken die Menschen langsam durch und verstehen was geschieht. Man könnte also geneigt sein an D. zu glauben und zu hoffen.

  13. “Was die Freiwirtschaft anbelangt, bin ich mir nicht sicher,…”

    Wenn Sie sich nicht sicher sind, sollten Sie Ihre Vorurteile für sich behalten.

    “…die Zinskritik…”

    Wer “Zinskritik” sagt, sagt damit nur, dass er nichts verstanden hat und auch nichts verstehen will. Der folgende Text ist schon für 12-jährige Schulkinder verständlich,…

    Der blinde Fleck der Volkswirtschaftslehre
    http://opium-des-volkes.blogspot.de/2011/11/der-blinde-fleck-der.html

    …nicht aber für “Erwachsene”, die von sich glauben, sie wüssten schon was.

  14. Leo sagt:

    Am 19.09.2009 erschien in junge welt (S. 10 f.) ein empfehlenswerter ausführlicher Artikel von Otto Köhler mit dem Titel: “Wohlstand für alle? Wie Ludwig Erhard im Januar 1945 mit dem später gehängte SS-Einsatzgruppenführer Otto Ohlendorf die Soziale Marktwirtschaft erfand”. Wer sich zum Thema “Soziale Marktwirtschaft” äußert, sollte diesen Text gelesen haben.

    Ergänzend ist zu verweisen auf: Ralf Ptak: Mythos Soziale Marktwirtschaft, siehe:
    http://www.sopos.org/aufsaetze/3cc9a4fe2b1de/1.phtml

    Erhards Formel “Wohlstand für alle”, die sich damals auf die Verbindung von profitgetriebener Kapitalakkumulation (“Wachstum”) und Sozialstaat (korrigierender sekundärer Umverteilung) stützte, und die den damaligen globalen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen entsprach, wird von der Praxis der vorsätzlich armuts-produzierenden Politik im Geiste der “Neuen Sozialen Marktwirtschaft” ins Gegenteil verkehrt, was wiederum wesentlich den gesellschaftlichen Macht- und Kräfteverhältnissen geschuldet ist.

    Das Wahrheitsmoment dieser Formel verweist allerdings auf eine neue Ökonomie, die nicht länger systemisch bedingt für die Konzentration des Reichtums auf dem einen Pol und die Konzentration der Armut auf dem anderen Pol sorgt, sondern tatsächlich WOHLSTAND FÜR ALLE mit sich bringt.

  15. Leo sagt:

    Hinweis auf die Rezension:

    Ulrike Herrmann: Hurra, wir dürfen zahlen

    http://www.nachdenkseiten.de/?p=5626

Einen Kommentar hinterlassen

Kommentar abschicken

le-bohemien