Anonymous – Das Interview

Begleitend zu den Recherchen für den Artikel Anonymous – Auf den Spuren des Schwarms führte le Bohémien ein Interview mit Personen, die sich als Teil der Anonymous-Bewegung präsentierten. Es bietet einen bislang beispiellosen Einblick in die Gruppierung.

Anonymous

Foto: Vincent Diamante / Flickr / CC BY-SA 2.0

Da Anonymous als Kollektiv arbeitet, gibt es keinen formell verantwortlichen Pressesprecher. Die Antworten auf die Fragen erarbeiteten rund 15 Anonyme in simultaner Gemeinschaftsarbeit. Die Anonymen sprechen in diesem Zusammenhang auch von einem so genannten Hive-Bewusstsein. Die Aussagen des Hives spiegeln einen möglichen Konsens innerhalb der Vereinigung wieder, können aber prinzipbedingt keine Allgemeingültigkeit für Anonymous haben.

Anonymous definiert sich als Verteidigungsinstanz der Meinungsfreiheit, bei Anonymous mitzuarbeiten bedeutet gegen Zensur zu kämpfen. Wieso setzt sich Anonymous so überzeugt für die Freiheit der Kommunikation ein? Wieso zieht dieses Ziel so viele Individuen an und wieso opfern die Mitglieder von Anonymous ihre Freizeit für diesen Kampf?

Das Internet gilt als letztes freies Medium, in dem sich Informationen und Meinungen jeglicher Art entfalten können. Anonymous möchte unter anderem verhindern, dass Regierungen und Konzerne im Eigeninteresse diese Meinungsfreiheit eindämmen.

Als Annäherung an diese Problematik kann beispielsweise auf die “Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace” von John Perry Barlow hingewiesen werden.

Wir sollten in diesem Zusammenhang auf die Geschichte von Anonymous eingehen. Was gibt es dazu zu sagen?

Anonymous selbst entstand aus dem Imageboard 4chan und wandelte sich von einer “Spaßbewegung” zu einem politisch motivierten Kollektiv von Kritikern und Aktivisten.

Anfang 2008 gelangte ein ursprünglich internes Scientology-Video, in welchem Tom Cruise unkritisch über sich und Scientology redet, ins Internet und wurde auf YouTube hochgeladen. Scientology unterstellte YouTube daraufhin eine angebliche Verletzung des Urheberrechts und forderte die Beseitigung des Videos. Als Reaktion auf diesen Zensurversuch seitens Scientology formulierten 4chan-Nutzer das “Projekt Chanology”, was gleichzeitig die Geburtsstunde von Anonymous als Kollektiv darstellt.

Seitdem hat sich Anonymous stark weiterentwickelt und setzt sich nun für eine Vielzahl von Zielen mit Bezug auf freie Meinungsäußerung ein. Ziele, mit denen sich heutzutage meist junge Menschen identifizieren können. Dadurch lässt sich wohl auch das große Interesse an Anonymous erklären.

Deutschland verfügt über eine  vergleichsweise heterogene Presselandschaft. Weltweit haben Menschen die Möglichkeit, sich in bisher nie gekanntem Ausmaß digital zu vernetzen. Wo macht Anoymous konkret eine Gefährdung der freien Meinungsäußerung aus?

Wer glaubt, die Freiheit werde in letzter Instanz auch vom Terrorismus bedroht, der hat wohl nicht Unrecht. Denn wer heute einen Lötkolben kauft, macht sich schon fast verdächtig. Wenn dazu noch Grillanzünder im Einkaufswagen liegt, gilt es bereits als fast bewiesen, dass man ein Terrorist ist. Aber im Ernst: Menschen werden ohne Grund durchsucht, Abhörmaßnahmen werden gedankenlos legitimiert, staatliche Spähprogramme dürfen auf private Computer eingeschleust werden, Standortdaten werden abgeglichen und so weiter.

In vielen Ländern der Welt ist Zensur und mediale Vollkontrolle längst bittere Realität und auch in Deutschland denken sich Politiker in stetiger Regelmäßigkeit neue Maßnahmen aus, mit denen sie die Bürger in ihrer Freiheit einschränken oder letztendlich gar gefährden. Denn genauso sicher wie Atomkraftwerke und Playstation-Netzwerke sind auch die Server, auf denen sensible persönliche Informationen massenhaft gespeichert werden.

Oft geschieht diese Speicherung unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung. Ein ebenfalls populäres Argument war in der Vergangenheit die Bekämpfung der Kinderpornographie. Anonymous bezweifelt, dass dies die ganze Wahrheit ist, doch dies weiter auszuführen würde zweifellos den Rahmen dieses Interviews sprengen.

Anonymous-Aktivisten treten in der Öffentlichkeit immer mit Guy-Fawkes-Masken auf. Die Masken  scheinen zu einer Art Markenzeichen geworden zu sein. Hat man sich diesbezüglich von dem Film und Comic “V wie Vendetta” inspirieren lassen? Was bedeutet dieses Bild für Anonymous?

Die Maske ist ein Zeichen des Widerstands der Kraft der Masse gegen Unterdrückung jedweder Art und als Symbol für die Macht des Volkes zu verstehen.

Darüber hinaus symbolisiert die Nivellierung der individuellen Unterschiede durch einheitliche Masken die objektive Kraft, die in einem als Kollektiv operierenden Schwarm entsteht. Es benötigt keiner geschriebenen Gesetze, keiner elaborierten Ideologie oder Anthropologie, da ein so agierendes Kollektiv eine Art übergeordnete Weisheit entwickelt, die sich schlicht auf dem einfachen menschlichen Sein gründet.

Insbesondere in Bezug auf die von Anonymous durchgeführten Hack-Attacken auf Paypal und Mastercard ist zu fragen: Was legitimiert die Vorgehensweise von Anonymous? Juristisch ist dies ein krimineller Akt, der für Kritiker von Anonymous Angriffsfläche bietet.

Bei den Angriffen auf Visa, Paypal und Mastercard handelte es sich nicht um Hacks oder Cracks sondern lediglich um Distributed Denial-of-Service-Attacken. Eine so genannte DDoS-Attacke kann man prinzipiell mit einer Sitzblockade vergleichen. Dennoch wird in Deutschland die Beteiligung an DDoS-Attacken als “Computersabotage” gewertet und nach § 303b Abs. 1 StGB mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe oder mit Geldstrafe geahndet.

Zum technischen Hintergrund: Indem die ausgewählten Server gezielt mit sinnlosen Anfragen überlastet werden, wird der Zugang zu den Diensten, die über diese Server laufen, verwehrt. Ketten sich Umweltaktivisten an die Gleise, muss der CASTOR-Transport auch stoppen, um im Bilde zu bleiben.

Es sei hier auch darauf verwiesen, dass ein Demonstrant, der sich an einer Sitzblockade beteiligt, für gemeinhin nicht danach gefragt wird, was sein Handeln legitimiert, obwohl sein Verhalten den Tatbestand der Nötigung erfüllt. Wir sehen hierin einen Widerspruch.

Dennoch möchte Anonymous mit diesen virtuellen Sitzblockaden nur bestimmten Verantwortlichen schaden, jedoch nicht Unbeteiligten. Als beispielsweise bekannt wurde, dass infolge der DDoS-Angriffe auf Sony auch deren User unter Unfreiheiten litten, wurden die Attacken eingestellt und eine formelle Entschuldigung an die Nutzer formuliert.

Auch wenn Anonymous in erster Linie als eine kollektive Idee, als ein kollektives Bewusstsein verstanden werden muss, stehen hinter dieser Idee Menschen. Berücksichtigt man, dass es keine offzielle Mitgliedschaft bei Anonymous gibt und dass zuverlässige Daten zu Anonymous nicht existieren, auf welchen Gebieten  ist Anonymous als besonders kompetent und fähig anzusehen? 

Es ist die Bündelung von Kräften und Interessen Einzelner, die uns immer wieder aufs Neue unsere wahren Fähigkeiten und Kompetenzen offenbart.

Gut, anders gefragt: Anonymous versteht sich selbst als Kollektivbewusstsein. Erklärungen, Operationen  und Strategien entstehen, indem mehrere Anonymous simultan daran arbeiten. Wie muss man sich die Arbeitsorganisation bei Anonymous konkret vorstellen?

Es gibt nicht “die” Arbeitsorganisation, so wie es auch keine Führung gibt. Immer, wenn sich genügend Leute für eine Aktion zusammenfinden, entscheiden sie spontan, was sie machen und wie sie es machen. Alle Abläufe bekommen dadurch eine Unschärfe, einen X-Faktor, ein kreatives Chaosmoment. Es gibt eine gewisse kollektive Ästhetik und verschiedene Codes, an denen sich die Aktiven orientieren, aber auch das ist ständig im Fluss und wandelt sich mit den Anonymen.

Oftmals ist es so, dass sich die Idee zu einer Operation über IRC oder öffentliche, so genannte Pads – die es einer beliebigen Zahl von Usern ermöglichen, gleichzeitig und unabhängig an ein und demselben Dokument zu arbeiten – verbreitet. Hier werden in der Regel die Grundrisse eines Vorhabens aufgezeichnet und dann mithilfe des Kollektivs erweitert und verbessert.

Wir  würden gerne verstehen auf welchen Gebieten Anonymous derzeit tätig ist. Ist es möglich einen kleinen Überblick zu den aktuell wichtigsten und umfangreichsten Operationen zu geben? 

Derzeit dürfte die #opIran recht beliebt sein. Der Iran ist schon seit Langem als Land bekannt, in dem eine unterdrückerische Staatsmacht mit und durch Gewalt und Zensur herrscht.

Als nun jedoch von einer staatlichen Presseorganisation eine Liste mit persönlichen, sensiblen Daten von Demonstranten, die gegen eben jenes Regime öffentlich Position bezogen haben, veröffentlicht wurde und diese Personen dadurch im übertragenden Sinne “zum Abschuss” freigegeben wurden, wurde es Zeit zu handeln. Den zu der Operation Iran gehörenden Videoclip findet man hier. Es gab bzw. gibt aber auch noch weitere arabische Operationen,  unter anderem #opTunesia, #opEgypt, #opLibya, #opBahrain und #opSyria.

Welche weiteren Projekte, oder auch Operationen, sind erwähnenswert?

Mit #opSony warnte man beispielsweise Sony vor weiterem Vorgehen gegen die Hacker GeoHot und Graf Chocolo, die auf einer PlayStation3 Linux zum Laufen brachten und damit gleichzeitig den Kopierschutz aufhoben. Mit den Angriffen auf das PlayStationNetwork hat Anonymous jedoch unseres Wissens nach nichts zu tun.

Dann gäbe es noch #opGreenRights, welche gezielt gegen große Atomkraftkonzerne aufruft und damit die derzeit umfassenden AntiAtom-Demos unterstützt.

Momentan am höchsten frequentiert ist #opNewZealand, bei der das neuseeländische Parlament angegriffen wird, weil es ohne Zustimmung bzw. Wissen der Bevölkerung einem Anti-File-Sharing-Gesetz, der Copyright Infringing File Sharing Amendment Bill, zustimmte, welches Providern erlaubt, ihre Kunden zu überwachen. Informationen dazu finden Sie hier.

Welche Rolle hat Anonymous bei den Revolutionen in den arabischen Staaten nun gespielt? Man hört Aktivisten von Anonymous leisteten Unterstützung dabei die digitalen Kommunikationswege zu sichern?

Das stimmt. Zum Beispiel wurden die Zugangsdaten für die von Telecomix kurzfristig eingerichtete Einwahlmöglichkeit an ägyptische Bürger, Schulen und Universitäten gesendet, um den Menschen die Möglichkeit zu geben, sich weiterhin digital auszutauschen. Dieser Dienst wurde unseres Wissens nach auch angenommen.

Zu diesem Zeitpunkt wurden die Provider von der Regierung dazu gezwungen, sämtliche Verbindungen abzuschalten. Seitens Anonymous wurden zeitgleich regimenahe Webseiten und Propagandaplattformen durch DDoS-Angriffe lahm gelegt.

Darüber hinaus spielte gewiss auch der schnelle Informationsfluss unter den miteinander vernetzten regimekritischen Aktivisten vor Ort eine Rolle, von denen eine Schnittmenge Kontakte zu Anonymous-Kanälen hat. Wie groß der tatsächliche Einfluss ist, weiß aber niemand so genau. Fakt ist aber: Wir sind da und wir sind viele.

Die Projekte oder auch Operationen von Anonymous haben also immer einen IT-Bezug oder ist Anonymous auch auf anderen Feldern aktiv?

Als eine lose Gemeinschaft, deren Kommunikations- und Wirkungsraum nun mal  das Internet ist, kann Anonymous sich kaum vom Internet und dem IT-bezug  trennen. Viel interessanter ist die Frage, welche Auswirkungen deren Handlungen auf das “off-line” Leben der Weltbevölkerung haben werden.

Operationen wie AnonymousPress, Leakspin bzw. jetzt Crowdleaks, aber auch weitere ops zeigen deutlich, dass eine lose Masse Gleichgesinnter sich zu organisatorisch komplexen Projekten zusammenschließen kann, die auch abstrakte und langfristige Ziele wie z.B. Meinungsfreiheit oder Bekämpfung der Zensur verfolgen können. In diesen Projekten wird kein personifizierter Feind (Diktator, Sekte, Unternehmen, etc.) zum Angriffsziel erklärt. Es geht hier vielmehr um die Suche nach Lösungsmöglichkeiten für diejenigen globalen Probleme, die ins Massenbewußtsein nicht vorgedrungen sind: Repressionen, Funktionsweise der Zensurmechanismen, Propaganda, Datenschutzverletzungen, Fremdenfeindlichkeit.

Solche Probleme können nicht durch Blitzaktionen wie massive DDoS-Attacken gelöst werden. Wegen einer falschen bzw. interessengeleiteten Berichtserstattung in den Massenmedien verfehlen solche Aktionen gar ihr Ziel, die Menschen auf bestimmte Missstände aufmerksam zu machen.

Operation Leakspin und Crowdleaks kam zur Sprache. Was hat es damit auf sich?

Das Projekt Crowdleaks, entsprang der Operation Leakspin und ist noch sehr jung. Es wird noch beweisen müssen, dass eine – aus einer spontanen Protestbewegung geborene Reform-Energie – für eine langfristige konstruktive Zusammenarbeit in einem losen engagierten Kollektiv ausreicht. Auf Crowdleaks haben sich in den ersten fünf Monaten seit Bestehen English-, Französisch-, Spanisch-, Deutsch-, Italienisch- und Russisch-sprachige Freiwillige weltweit zusammengefunden, die sowohl über die Veröffentichungen von Wikileaks als auch über die Enthüllungen durch Anonymous (Anonleaks) ausführlich berichtet haben.

Die Grundidee von Crowdleaks ist der so genannte “Crowdjournalismus”. Basierend auf einer zensurfreien Plattform, wo jeder sich am Verfassen, Editieren, Bewerten und Übersetzen von Artikeln beteiligen kann, soll nicht nur die Zensur bekämpft, sondern auch möglichst jede Sprachbarriere überwunden werden. Derzeit verfügbare Open-Source Lösungen decken jedoch die damit verbundenen technischen Anforderungen nicht ab. Es wird sich zeigen, ob das Projekt genug Crowd-Journalisten und IT-ler anlocken wird, um eine technische Plattform auf die Beine zu stellen, die dieser globalen Idee gerecht werden kann.

Was können wir uns unter dem Projekt Anonleaks vorstellen?

Anonleaks, ein absolutes Highlight im Februar 2011, von dem in Deutschland bisher leider nur Heise recherchiert und ausgiebig berichtet hat, ist die Veröffentlichung der während eines spektakulären Angriffs entwendeten Email-Archive der US-amerikanischen Sicherheitsfirma HBGary Federal. Die daraufhin entstandene Webseite Anonleaks ist somit die erste Leak-Plattform der Anons. Über 60.000 Emails mit hochexplosivem Material wurden weltweit publik gemacht: Entwicklung der Strategien gegen Wikileaks, gegen US-amerikanische Aktivisten und Gewerkschaften, Software für die Meinungsmanipulation sowie Fort- und Eigenentwicklung von diversen Spionage-Programmen für Ermittlungen durch US-Behörden sowie für Privatkunden, u.a. auch Stuxnet. Der Angriff von Anonymous auf HBGary ist also als ein Akt der Selbstverteidigung zu verstehen.

Eine Frage zur deutschen Anonymous. Was sind die nächsten Operationen, die von der deutschen Community zu erwarten sind?

Derzeit versuchen sich deutsche Anonymous-Aktivisten an der so genannten #opBlitzkrieg – einer Operation gegen militante Neonazis. Diese Aktion ist aber selbst unter den Anons stark umstritten, weil damit die Meinungsfreiheit beschnitten bzw. Kommunikation verhindert wird. Deshalb sind politische Parteien auch kein Ziel von #opBlitzkrieg. Bei einem Kollektiv, in dem jeder mitwirken kann, sind Vorhaben auf politischer Basis generell schwierig, da die individuellen, persönlichen Meinungen weit gestreut sind.

Darüber hinaus werden die aktuellen netzpolitischen Pläne der EU genau beobachtet, um gegebenenfalls schnellstmöglich eingreifen zu können. Natürlich können zu diesem Punkt keine weiteren Angaben gemacht werden, da Anonymous vom Überraschungsmoment profitiert und in Zukunft auch gerne weiterhin profitieren möchte.

Die meisten Operationen sind jedoch international, lassen sich also nicht konkret auf Deutschland beziehungsweise auf ausschließlich deutsche Beteiligung beschränken. Deutsche Aktivisten nehmen beispielsweise auch an der #opIran teil.

Wie funktionieren die Kommunikation und das Werben neuer Aktivisten bei Anonymous?

Anonymous kommuniziert über die ursprünglichste Form des Chats, den Internet Relay Chat, kurz IRC. Dies erlaubt nicht nur die Kommunikation sondern unter anderem auch die Steuerung von so genannten Hive-Minds, also der virtuellen Schwärme einzelner Operationen.

Neue Aktivisten jeder Art sind bei Anonymous willkommen. Ob einfache Sympathisanten, politische Aktivisten oder auch Hacker, für jeden gibt es einen Platz. Für diejenigen, die sich noch nicht mit der Thematik auskennen, wurde #opNewBlood eingerichtet, um eine Einweisung in die Basics der Anonymisierung und des IRC-Chats zu geben. Dazu wurde auch ein Dokument erstellt: #opNewBlood

Jeder kann sich also bei Anomymous beteiligen beziehungsweise sich als Anon ausgeben. Wer garantiert aber, dass Anonymous nicht unterwandert und ausgespäht wird, sprich die hehren Ziele nicht zuletzt missbraucht und für andere Zwecke instrumentalisiert werden? 

Der gesunde Menschenverstand garantiert das, aber auch der Prozess, der der Arbeit bei Anonymous zugrunde liegt: Selber denken – Informieren – Diskutieren – Meinung bilden – Skeptisch bleiben.

Da nicht nachvollziehbar ist, von wem eine Idee stammt, wird ihr Inhalt umso wichtiger. Die kritische Betrachtung der User wirkt wie natürliche Selektion. Schwachsinn oder Missbrauchsversuche finden einfach nicht ausreichend Zuspruch. Das ist das Positive daran, dass kein Vorgesetzter bestimmt, welcher Weg gegangen wird.

Welches anthropologische Verständnis liegt Anonymous zugrunde? Wie werden die Prinzipien von Anonymous geschützt?

Es liegt überhaupt kein anthropologisches Verständnis zugrunde. Prinzipien, sofern sie denn existieren, schützen sich selbst solange sie legitim und plausibel erscheinen. Quälen sie etwa Katzen? Der Schutz vor Unterwanderung entsteht selbstorganisiert ganz von alleine. Wer eine Zeit lang bei Anonymous dabei ist, kann es selbst erleben.

Außerdem sollte man bedenken, dass es keine festen “Gruppenstrukturen” gibt. Finden sich einige Leute zu einer Operation zusammen, heißt das nicht zwangsläufig, dass diese auch in Zukunft miteinander arbeiten werden. Wie die Op selbst, zerfällt auch der Verband von Anonymous-Aktivisten nach dem Erreichen der angestrebten Ziele.

Kritischer  gefragt: Was garantiert dabei, dass Anonymous nicht zu einer brutalen Bestie mutiert, die wahllos Ziele angreift?

Die selben Gesetzmäßigkeiten, welche garantieren, dass die 82 Millionen potentiellen Terroristen in Deutschland nicht wahllos Sprengsätze platzieren. Doch letztlich gibt es natürlich auch hierfür keine Garantie. Wohl aber besteht Grund zur Hoffnung, dass es in Kreisen von Anonymous – und somit auch in der Menschheit als solcher – genügend zivilisierte Menschen gibt, die nicht jegliches beliebige Mittel für legitim halten, um ihre Ziele zu erreichen. Zumindest sollten sich in Anbetracht der großen Anzahl von Menschen, die bei Anonymous mitwirken, hinreichend viele Personen finden, die ein solches Moralverständnis auszeichnet.

Zum Abschluss. Wir berichteten über die Vorgänge im Zuge der Ryan-Affäre“ bei Anonymous. Ryan war ein so genannter Administrator. Was hat es damit auf sich? 

Die Administratoren des IRC-Netzwerks (AnonOps), also die Betreuer der Server auf denen ein Teil der Anonymous-Dienste laufen, verfügen wie überall im Internet über den uneingeschränkten Zugriff auf alle unverschlüsselt gespeicherten Informationen. Dies kann unter Umständen ein Sicherheitsrisiko darstellen.
Denn zum Betreiben von Netzwerken braucht es leider immer vertrauenswürdige Personen, die sich darum kümmern. Natürlich wollen wir alle anonym sein und bleiben, sowie den Servern vertrauen. Das geht derzeit aber nur wenn wir wiederum den Operatoren vertrauen.
Je größer eine Gruppe oder deren Einfluss wird, desto größer ist die Gefahr solcher Dramen. Ryan hat gezeigt, wie leichtsinnig und unanonym manch User im IRC unterwegs sind. Auf der anderen Seite behaupten manche, Ryan habe gegen den Machtmissbrauch der alten Crew gewirkt. Hier steht Aussage gegen Aussage und nur Beteiligte kennen die Wahrheit. Die meisten Aussagen, egal welcher Seite, sind fast immer widersprüchlich.

Was hat der Schwarm aus diesen Ereignissen gelernt? Welche Auswirkungen werden diese Erfahrungen mit Ryan haben? 

Der Lerneffekt der Affäre hat leider noch nicht bei allen Anons eingesetzt. Ob und welche Auswirkungen diese Ereignisse haben ist noch nicht absehbar. Jedoch scheint sicher, dass natürlich mehr drauf geachtet werden muss, ob jemand wirklich vertrauenswürdig genug ist, um technischer Operator für die IRC-Netzwerke zu sein.
Man kann das Ganze auch als eine Art Reinigungsprozess sehen und diese Vorgänge sind so alt wie Anonymous selbst. Aber genau darin zeigt sich wieder das anonyme Wesen: Einmal durchkehren und weiter geht’s. AnonOps wiederholt ein wenig die Chanology-Story.
Was auch passiert. Es gibt neben AnonOps auch andere Anonymous-Netzwerke zum Ausweichen wie z.B. Twitter, Facebook, i2p, Tinychat oder wenn garnichts mehr geht Back to the Roots: Die Imageboards. Wobei bei AnonOps-Ausfällen immer andere IRC-Server zur Verfügung stehen. In diesem Sinne geht Anonymous aus der Ryan-Affäre letztendlich gestärkt hervor und blickt erwartungsvoll in Richtung des nächsten Dramas. Nicht umsonst raten Alteingesessene: Never trust”.

Wir danken für das Interview

 

Zum Thema:

– Zweitveröffentlichung des Interviews beim Spiegelfechter

– Spaniens Jugend auf der Straße – Ticker zur “Spanischen Revolution”


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2 Kommentare zu "Anonymous – Das Interview"

  1. Der Tor aus Tokyo sagt:

    Die Debatte um Anonymous und ethisch-juristische Probleme kann man auch gut bei Gerd R. Rueger nachlesen, der DDOS-Aktionen mit RL-Demonstrationen vergleicht, siehe auch:
    Die Zerstörung von WikiLeaks? Anonymous… Info-Piraten versus Scientology, Pentagon und Finanzmafia
    http://anders-verlag.de/page2.php

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