Über die Physik der Atomkraft

Gespräch mit dem Physiker Janosch Deeg (Teil 2)

DDR-Delegation besucht Atomkraftwerk Nowo Woronesh, Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-F1113-0205-004 / CC-BY-SAFlorian Hauschild traf für le bohémien den Diplom-Physiker und Doktoranden Janosch Deeg. Gemeinsam sprachen die beiden über die Physik der Atomkraft. Im zweiten Teil des Interviews dreht sich alles um die physikalischen und technischen Vorgänge in einem Atomreaktor.

le bohémien: Herr Deeg, bisher konnten wir, denke ich, ganz gut folgen. Wir haben uns erinnert was ein Atom ist, aus welchen Teilen dies besteht und dass die Anzahl der Teile darüber bestimmt, um welches Element es sich letztendlich handelt. Dann gibt es radioaktive Elemente wie Uran, welche unkontrolliert zerfallen in Zerfallsketten. Bei jedem einzelnen Zerfall wiederum wird Energie in Form verschiedener Arten von radioaktiver Strahlung frei. Kommen wir zu der Frage was das diese Radioaktivität mit Atomkraft zu tun hat…

Deeg: Ja, genau an dem Punkt sind wir nun. Die Energiegewinnung der Atomkraft beruht auf der so genannten induzierten Kernspaltung. Dies entspricht im Prinzip, wie beim spontanen Zerfall, von dem wir ja bisher sprachen, dem Übergang eines Nuklid in leichtere Nuklide. Der Unterschied hierbei ist, dass der Zerfall nun nicht mehr spontan geschieht, sondern induziert – also hervorgerufen – wird. Dazu muss z.B. das oben erwähnte 235Uran mit Neutronen beschossen werden. Wird nun ein solches Neutron von dem Atomkern eingefangen, entsteht ein hochinstabiles Nuklid 236Uran, was sofort wieder zerfällt.

Nun könnte man denken – da wir ja wissen, dass bei dem Zerfall Energie in Form von Strahlung frei wird – kann diese Strahlung nun quasi als Energie verwertet werden. Das ist aber nur zu einem ganz kleinen Teil der Fall. Der Großteil der Energie wird gewonnen, indem die neu entstandenen Nuklide Bewegungsenergie an ihre Umgebung abgeben. Sie befinden sich ja direkt nach dem Zerfall in einem angeregten Zustand. Man kann sich wieder vorstellen, dass sie sich schlicht schnell bewegen. Der Energietransfer passiert nun durch einfach Stöße der angeregten Nuklide mit anderen umgebenden Atomen oder Molekülen, z.B. Wassermolekülen. Und wenn diese angestoßen werden, bewegen sie sich auch wieder schneller, was wiederum nichts anderes als einen Anstieg der Wassertemperatur bedeutet.

Aus heißem Wasser entsteht Wasserdampf, womit dann Dampfturbinen angetrieben werden können. Diese produzieren schließlich elektrischen Strom. Einfach ausgedrückt, bei den Zerfallsprozessen entsteht Wärme, die dann in elektrische Energie umgewandelt wird.

le bohémien: Ok, das hört sich ja wirklich nicht so kompliziert an. Vielleicht gehen wir noch etwas weiter in Detail. Wie genau wird die Spaltung denn induziert? Sie sprachen davon, dass die Nuklide mit Neutronen beschossen werden?

Deeg: Ja, im Atomreaktor geschieht dies aber indirekt, also nicht von außen. Im inneren, also da wo sich das radioaktive Material befindet, sind immer einige freie Neutronen durch spontane Kernspaltung vorhanden. Spontane Kernspaltung ist eine seltene Form von natürlichem radioaktivem Zerfall bei dem zwei leichtere Kerne entstehen und eben freie Neutronen. Diese können jetzt wieder eine erneute induzierte Spaltung hervorrufen, indem sie auf einen noch nicht gespaltenen Kern treffen, d.h. der Spaltprozess wird von alleine aufrechterhalten. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer Kettenreaktion.

le bohémien: Tritt eine Kettenreaktion also immer ein, wenn eine spontane Kernspaltung auftritt?

Deeg: Nein, nicht immer. Damit der Spaltprozess aufrechterhalten wird, also eine Kettenreaktion startet, braucht man eine kritische Masse, eine bestimmte Menge von spaltbaren Nukliden, also eben eine gewisse Menge des Stoffes (etwa Uran). Hat man genau die kritische Masse beisammen, wird, durch die bei einer Spaltung frei werdenden Neutronen, durchschnittlich genau wieder ein anderes Nuklid gespalten. Die Spaltung läuft also kontrolliert weiter, das ist der Zustand den man anstrebt. Wird im Mittel durch eine Spaltung weniger als eine erneute Spaltung ausgelöst, hört der Prozess irgendwann auf.

Ist man überhalb der kritischen Masse wird im Durchschnitt mehr als eine andere Kernspaltung ausgelöst. Das bedeutet es werden immer mehr Kerne gespalten und der Prozess gerät schließlich außer Kontrolle. Dieses Prinzip wird bei Kernwaffen eingesetzt. Deswegen ist die Masse wirklich ein kritischer Wert.

le bohémien: Aber wie kann man sich vorstellen, dass jetzt gerade die Masse der ausschlaggebende Faktor ist, damit der Spaltprozess kontrolliert abläuft?

Das ist eine einfache Wahrscheinlichkeitsbetrachtung. Werden bei einer Spaltung zum Beispiel immer drei Neutronen frei, dann soll im Schnitt eines davon eine weitere Spaltung auslösen, damit die Spaltung kontrolliert fortgesetzt wird.

Dafür muss die Masse, also die Anzahl der umgebenden spaltbaren Nuklide so groß sein, dass im Durchschnitt, genau eines der drei Neutronen auf einen Atomkern trifft und eine Spaltung auslöst. Sind zu wenig spaltbare Nuklide in der unmittelbaren Umgebung treffen die Neutronen zu wenig andere Kerne, sie fliegen einfach vorbei, sind jedoch zu viele Nuklide vorhanden, treffen die Neutronen zu oft andere Kerne und es werden immer mehr Nuklide gespalten. Ist das klar?

le bohémien: Mehr oder weniger…

Deeg: Gut, vielleicht mache ich hierzu ein einfaches Zahlenbeispiel. Gehen wir mal von dem extremen Fall aus, dass die angenommenen drei Neutronen, die bei einer einzelnen Spaltung entstehen, wieder drei weitere Nuklide spalten, dann werden beim nächsten Schritt schon sechs, dann zwölf, dann 24 Nuklide gespalten und das setzt sich fort. Bei jedem Schritt werden also mehr Nuklide gespalten als beim vorangehenden und man kann sich vorstellen, dass dieser Prozess außer Kontrolle gerät. Deswegen ist es sehr wichtig, dass man die kritische Masse nicht überschreitet.

le bohémien: Wenn ich das jetzt alles richtig verstanden habe, dann nimmt die Anzahl der spaltbaren Nuklide in einem Reaktor ständig ab. Muss ich dann immer neue Masse hinzugeben?

Deeg: Sie haben Recht. Aber dies ist ein Punkt der nicht ganz so einfach ist. Dazu müssen wir erstmal besser verstehen wie ein Atomreaktor genau aufgebaut ist bzw. funktioniert. Im Atomreaktor gibt es Elemente, die auf die kritische Masse Einfluss haben, will heißen, es gibt Möglichkeiten die Kettenreaktion einzuleiten aber auch wieder zu stoppen, ohne dass die Masse genau auf die kritische Masse “eingestellt” wird. Aber prinzipiell muss natürlich das spaltbare Material irgendwann ausgetauscht werden, weil nicht mehr genügend von dem gewünschten Nuklid vorhanden ist, das ist absolut richtig.

Doch zurück zu den Elementen eines Kernreaktors, welche die kritische Masse “beeinflussen”. Zum Beispiel wäre da der Neutronenreflektor, der diejenigen Neutronen die nicht “getroffen” haben wieder auf das spaltbare Material zurückreflektiert. Das kann z.B. einfach eine Hülle aus Stahl sein an welcher die Neutronen wieder reflektiert werden. Dies führt zu einer Reduktion der kritischen Masse und man braucht weniger Material um die Kettenreaktion aufrechtzuerhalten. Um eine Vorstellung von Größenordungen zu bekommen, mache ich mal ein Zahlenbeispiel. Für 235U liegt die kritische Masse in Kugelform bei 49 kg. Ich sagte Kugelform weil die kritischen Massen, die für bestimmte Nuklide angegeben werden, immer von einer Kugelform ausgehen, da auch die Form in welcher das Material vorliegt einen Einfluss auf die kritische Masse hat. Die kritische Masse von 49kg kann aber z.B. nun durch Neutronenreflektoren auf unter 20 kg reduziert werden.

Darüber hinaus gibt es im Kernreaktor so genannte Steuerstäbe. Die sind dazu da die Kettenreaktion zu stoppen, bzw. zu steuern und sind also von immens großer Wichtigkeit. Sie bestehen aus einem stark Neutronen absorbierenden Material. Deswegen kontrolliert man den Beginn einer Reaktion nicht in erster Linie durch die vorliegende Masse, sondern durch die Anzahl der freien Neutronen, die eine Spaltung auslösen können. Dies geschieht hauptsächlich mit den Steuerstäben. Sie sind auch dazu in der Lage die Reaktion zu regulieren, beispielsweise die Spaltungen zu reduzieren, wenn zu viele Spaltungen erfolgen.

le bohémien: Und wie kann man sich das jetzt im Kernkraftwerk vorstellen. Befindet sich dort eine 20kg schwere Kugel aus Uran, umgeben vielleicht von einem Neutronenreflektor und Steuerstäben?

Deeg: Leider ist es nicht ganz so einfach. Meist werden kleine Tabletten aus Uranoxid verwendet, die nur zu einer geringen Menge aus dem gewünschten 235Uran bestehen. Diese Tabletten werden in zylindrische Hüllen aus Metall gefüllt und bilden einen so genannten Brennstab. Die Hülle dient dazu, dass das radioaktive Material nicht in direkten Kontakt kommt mit dem Kühlmittel der Umgebung. Man verwendet für die Hülle Materialien, die die entstehenden Neutronen kaum absorbieren, so dass diese nicht verloren gehen. Mehrere Brennstäbe werden dann wiederum zu Brennelementen zusammengefasst und in einem Reaktor befinden sich dann viele von diesen Brennelementen.

Zwischen den einzelnen Brennstäben befinden sich so genannte Steuerstäbe welche in ihrer Höhe rauf und runter gefahren werden können. Werden sie komplett zwischen die Brennstäbe hinein gefahren, absorbieren sie fast alle Neutronen die zwischen den Brennstäben hin und herfliegen, d.h. die Kettenreaktion wird nicht gestartetoder eben auch zeitverzögert gestoppt. Zieht man sie heraus, fliegen die Neutronen zwischen den Brennstäben hin und her und induzieren Kernspaltungen. Die Position der Steuerstäbe regelt sozusagen die Menge der freien Neutronen und somit die Stärke der Kettenreaktion.

le bohémien: So ein Brennelement ist also nichts anderes als ein Bündel aus mit 235Uran-Tabletten gefüllte Röhren, und dazwischen noch Steuerstäbe?

Deeg: Genau, aber es muss nicht unbedingt so aussehen, es gibt auch andere Konzepte.

le bohémien: Lassen sie uns kurz noch über die Brennelemente sprechen. Wieviel Uran ist denn jetzt ungefähr in einem Brennelement oder einem Brennstab?

Deeg: Das ist schwierig zu sagen, denn es ist, je nach Reaktortyp, sehr unterschiedlich. Grob kann man sagen, dass in einem Reaktor mehrere hundert Brennelemente sind und diese können wiederum auch aus bis zu mehreren hundert einzelnen Brennstäben bestehen. Insgesamt bewegt man sich dann meist im Bereich von mehreren Tonnen, wenn man das ganze Uran zusammen nimmt, welches sich in einem Reaktor befindet. Die Menge des spaltbaren Materials im Reaktorist also deutlich größer als die kritische Masse, aber das Material ist ja auch räumlich getrennt und außerdem kann man die Anzahl der freien Neutronen durch die Steuerstäbe kontrollieren.

le bohémien: Und was gibt es außer Brennelementen, Steuerstäben und Neutronenreflektor noch wichtiges im Reaktor?

Deeg: Da wäre noch das Kühlmittel, in welchem sich die Brennelemente befinden. Es dient, wie der Name schon sagt, dazu zu kühlen. Das erwärmte Kühlmittel, wird ständig abtransportiert und die Wärme wird in elektrische Energie umgewandelt. Das gekühlte Kühlmittel fließt wieder zurück in den Reaktor usw., wir haben es also mit einem Kühlkreislauf zu tun.

In vielen Reaktoren ist das Kühlmittel Wasser und dient gleichzeitig als Moderator. Ein Moderator ist ein Material welches die sehr schnellen Neutronen abbremst. Dadurch wird die Wahrscheinlichkeit deutlich erhöht, dass diese eine weitere Spaltung auslösen. Denn die bei einer Spaltung austretenden Neutronen sind erst einmal sehr schnell und wenn sie dann auf einen Kern treffen, prallen sie meistens einfach ab.

Sind die Neutronen hingegen langsamer können sie eher absorbiert werden. Das heißt Moderatoren verringern die kritische Masse weil sie die Wahrscheinlichkeit einer Spaltung erhöhen. Deswegen braucht man weniger von dem Material um eine Kettenreaktion aufrecht zu erhalten. Einen gegenteiligen Effekt hat aber die Tatsache, dass der Moderator selbst Neutronen aufnimmt und deswegen weniger Neutronen für die Spaltung zur Verfügung stehen. Deswegen muss man genau schauen welcher Moderator am besten geeignet ist.

Es gibt Reaktortypen die andere Kühlmittel verwenden, oder zu wenig Wasser zwischen den Brennelementen haben, so dass zusätzliche Stoffe, z.B. Graphit als Moderator genutzt werden.

le bohémien: In Fukushima hatten die Reaktoren auch Wasser als Kühlmittel. Als die Pumpen ausfielen, warum hat man da nicht einfach die Steuerstäbe hinabgelassen um die Kettenreaktion zu stoppen?

Das ist auch geschehen. Und selbst wenn die Reaktion nicht durch Steuerstäbe gestoppt wird, bewirkt ein Fehlen des Moderators, also des Wassers, dass die Kettenreaktion endet. Das Wasser verdampft nämlich und verliert seine moderierende Wirkung, was auch zu einem Ende der Kernspaltungen führen würde. Das Problem ist also nicht die unkontrollierte Kettenreaktion, sondern dass solche Brennstäbe, auch nachdem die Kettenreaktion gestoppt ist und keine Kernspaltung mehr statt findet, noch unglaublich viel Nachzerfallswärme produzieren.

Diese Wärme entspricht direkt nach dem Abschalten nur ungefähr zwei bis zehn Prozent der Wärme, die unter Normalbetrieb produziert wird. Wird aber nicht gekühlt können sich die Brennstäbe auf bis zu 2000 °C aufwärmen. Zum Vergleich, im normalen gekühlten Betrieb haben wir es normalerweise mit Temperaturen deutlich unter 1000 °C zu tun. Eine Kühlung der Brennelemente nach Abschalten des Reaktors ist also unerlässlich. Diese Kühlung muss sogar bei bereits ausgetauschten Brennstäben über mehrere Jahre hinweg in so genannten Abklingbecken geschehen, von denen wir nun auch oft im Zusammenhang mit Fukushima gehört haben.

Die Nachzerfallwärme kommt daher, dass schon gespaltene Nuklide radioaktiv sind und spontan weiter zerfallen. Die Energie die dabei entsteht reicht aus um die Brennstäbe weiterhin stark zu erhitzen.

le bohémien: Herr Deeg, ich denke auch Nicht-Physiker konnten jetzt realtiv gut verstehen wie ein Atomkraftwerk funktioniert. Im Grunde sind die Vorgänge auch gar nicht mal so kompliziert. Ich denke es ist nun klar, wie in einem Atomkraftwerk Energie erzeugt wird: Die beim Zerfall in Kettenreaktion neu entstehenden Nuklide geben Bewegungsenergie an ihre Umgebung ab, dadurch erhitzt sich Wasser was wiederum Turbinen antreibt. Mittels, Steuerstäben und Moderatoren wie Wasser, lässt sich der Zerfallsprozess beeinflussen. Sie haben uns auch über den Begriff der kritischen Maße aufgeklärt und uns aufgezeigt wann und wie eine Kettenreaktion überhaupt erst in Gang kommt und sich kontrollieren lässt. Fukushima klang bereits an. Beginnen wir doch über die Risiken und Gefahren zu sprechen, die bei der Energiegewinnung durch Kernkraft auftreten…

Über die Physik der Atomkraft (Teil1)

Über die Physik der Atomkraft (Teil3)

Bildquelle: Bundesarchiv, Bild 183-F1113-0205-004 / CC-BY-SA

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2 Kommentare zu "Über die Physik der Atomkraft"

  1. fakeraol sagt:

    > “Gehen wir mal von dem extremen Fall aus, dass die angenommenen drei Neutronen, die bei einer einzelnen Spaltung entstehen, wieder drei weitere Nuklide spalten, dann werden beim nächsten Schritt schon sechs, dann zwölf, dann 24 Nuklide gespalten und das setzt sich fort.”

    Falsch. Wenn aus einer Spaltung drei Neutronen entstehen, ist das der Faktor Drei und bedeutet nicht 1 -> 3 -> 6 -> 12 -> 24 sondern 1 -> 3 -> 9 -> 27 -> 81 .

    Übrigens liefert CrisisMaven im gelben Forum einen sehr umfassenden kompetenten Überblick über die Fragen zu den verschiedenen Aspekten der Atomkraft.

    http://dasgelbeforum.de.org/forum_entry.php?id=208864

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