Neoliberalismus nach der Krise

“Big Society. Not Big Government”

Dass der Neoliberalismus nach der Finanzkrise zwar in der Öffentlichkeit diskreditiert, aber keinesfalls tot ist, beweist nicht nur die gegenwärtige Wirtschafts- und Finanzpolitik der EU, sondern auch die EuroMemo-Gruppe mit der Veröffentlichung ihres Memorandums 2010/11. Die europäische Arbeitsgruppe – ein Ableger der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, der Ökonomen wie Rudolf Hickel oder Heinz-J. Bontrup angehören – bezieht darin nicht nur kritische Stellung zur EU-Wirtschaftspolitik, sondern weist auch auf eine aktuelle neoliberale Strategie hin, die unter dem Deckmantel einer Stärkung der Zivilgesellschaft auf Kosten der staatlichen sozialen Infrastruktur durchgesetzt werden soll. In England steht das Projekt “Big Society. Not Big Government” unter dem Premierminister David Cameron bereits vor der Umsetzung.

Das EuroMemorandum (deutscher Titel: Der Krise entgegentreten: Sparkurs oder Solidarität) setzt sich mit diesem bemerkenswerten Konzept – eine ausgeklügelte Marketingstrategie – im hier folgenden Abschnitt 1.5. ausführlich auseinander:

Falls aus längerer historischer Sicht an der gegenwärtigen »Austeritätshysterie« eines bemerkenswert sein wird, dann dies: Wie kann es sein, dass nur zwei Jahre nach der verheerendsten Krise der privaten Marktwirtschaft nicht das Versagen der privaten Finanzsektoren bei der Bewältigung systemischer Risiken im Mittelpunkt der öffentlichen Debatten steht, sondern die angebliche »Unverantwortlichkeit« von Staatseingriffen und Staatsverschuldung?

Ein Teil der Antwort ist, dass die Forderungsausfälle der privaten Banken kontinuierlich verstaatlicht wurden. Zusammen mit den sozialen Kosten der Rezession, die auf die Finanzkrise folgte, sind die uneinbringbaren Privatschulden den Staaten aufgebürdet worden. Dies erklärt allerdings noch nicht, warum die weitere politische, wirtschaftliche und moralische Verantwortung für die Verschuldung inzwischen nicht mehr bei denjenigen gesucht wird, die sie verursacht haben, sondern beim Staat selbst, und mit diesem bei der »allgemeinen Öffentlichkeit«: Kernstrategien zur Rückzahlung der Schulden zielen nicht auf den privaten Finanzsektor, etwa durch höhere Unternehmenssteuern in bestimmten Bereichen oder höhere Vermögensabgaben, sondern auf radikale Einschnitte in den Lebensstandard derjenigen, die keinerlei Verantwortung für die Krise tragen.

Ein weiterer Teil der Antwort besteht darin, dass diejenigen, die schon vor dem Jahr 2008 das Sagen hatten und es auch weiterhin haben, ein politisches Projekt verfolgen. Derzeit trägt dieses Projekt lediglich in Großbritannien schon einen Namen: »Big Society. Not Big Government« (Große Gesellschaft, statt großer Regierung). Aber ebenso wie der Shareholder-Kapitalismus zunächst als ein ausschließlich angelsächsisches Projekt wahrgenommen worden war, obwohl er sich in der Realität bereits globalisiert hatte, so ist es durchaus denkbar und sogar wahrscheinlich, dass die »Big Society« zum Vorbild eines neuen neoliberalen Projektes wird, es sei denn, sie trifft rechtzeitig auf entschiedenen Widerstand.

Was ist der Schlüsselgedanke hinter dem Begriff der »Big Society«? Im Kern geht es um eine radikale Privatisierung gemeinschaftlicher Organisationsformen auf regionaler und lokaler Ebene sowie öffentlicher Kernfunktionen. Dies betrifft z.B. Wohlfahrtsverbände und -einrichtungen, weite Zuständigkeitsbereiche der Kommunalverwaltungen, regionale öffentliche Einrichtungen und Nichtregierungsorganisationen. Unabhängig davon, ob die Rechtsform solcher Organisationen hauptsächlich privater oder öffentlicher Natur ist, sind sie in der Regel stark von öffentlichen Zuschüssen abhängig. In der »Big Society« sollen diese Einrichtungen nun in »soziale Unternehmen« umgewandelt werden, die weitgehend ohne Staatszuschüsse durch Freiwillige betrieben werden. So wurde in Großbritannien am 18.11.2010 z.B. das sogenannte right to provide (das Recht, Dienstleistungen zu erbringen) für Beschäftigte des öffentlichen Dienstes eingeführt. Demzufolge haben Angestellte des öffentlichen Dienstes nun das Recht, öffentliche Dienstleistungen aller Art in privaten Kollekivorganisationen, wie Nachbarschaftshilfen und Gegenseitigkeitsgesellschaften (so genannte mutuals), anzubieten: Wer auch immer meint, er könne es besser machen als die öffentlichen Einrichtungen, hat ein Übernahmerecht.

Ein anderes Beispiel desselben Prinzips ist die Einführung der »freien Schulen«. Diese Schulangebote werden nur von Eltern und Ehrenamtlichen betrieben, ohne jede Auflage oder Kompetenzanforderung außer an die Lehrerinnen und Lehrer, die sie beschäftigen wollen. Die Anschubfinanzierung der Fixkosten, etwa der Schulgebäude, wird von den staatlichen Schulen abgezweigt. Und die von den Eltern und Ehrenamtlichen gewünschten Lehrerinnen und Lehrer werden schlussendlich an privaten Universitäten graduieren, deren Haupteinkommensquelle die Studiengebühren ihrer Studierenden sind.

Das Projekt der »Big Society« läuft zurzeit unter dem Slogan »Power to the People« (Alle Macht dem Volk), das den Abbau und die Entmachtung staatlicher Funktionen und Institutionen zugunsten der freiwilligen lokalen Initiative betont. Wesentlich ist, dass diese »Un-Gleichschaltung« öffentlicher Funktionen und Aufgaben ohne Bereitstellung materieller Ressourcen erfolgt. Ganz im Gegenteil: Die öffentliche Finanzierung lokaler, regionaler und sozialer Infrastruktur wird radikal gekürzt, um Schulden zurückzuzahlen, für die im Großen und Ganzen die wohlhabenden Eliten die Verantwortung tragen, und um die Senkung von Unternehmens- und Vermögenssteuern zu finanzieren.

Selbst die begrenzten Mittel, die anfänglich für neu gegründete private Dienstleistungsunternehmen (oder »soziale Unternehmen«) zur Verfügung gestellt werden sollten bis diese »investitionsfähig« sind, sollen ab Frühjahr 2011 um 10 Mrd. Pfund gekürzt werden. Es ist wohl lohnend sich in Erinnerung zu rufen, dass eine frühere Generation solcher »sozialen Unternehmen«, die so genannten Building Societies (Bausparkassen), unter der Thatcher-Regierung mit dem Ziel eingeführt worden waren, die Privatisierung von Wohnungsbau und -besitzverhältnissen zu befördern. Zwei Jahrzehnte später standen diese Bausparkassen in Großbritannien im Zentrum der Finanzkrise von 2007/08.

Ein wichtiger ideologischer Schachzug dieses neuen neoliberalen Projekts besteht in der Verwendung der anti-staatlichen Terminologie progressiver Grassroot-Bewegungen. Es spielt mit dem gerechtfertigten Unmut der Bevölkerung über die politischen Klassen, allerdings mit dem Ziel, den Zugriff genau dieser politischen und wirtschaftlichen Gruppierung auf kollektive Organisationen zu verschärfen und jede soziale Infrastruktur zu zerstören, die derartigen kollektiven Einrichtungen zu einem genuinen Ausdruck der Meinung und Wünsche der Bevölkerung machen würde. In diesem Sinn geht die »Big Society« deutlich über den Abbau des Wohlfahrtsstaates unter Thatcher und Reagan hinaus: Sie hat es sich zur Aufgabe gestellt, die materiellen und organisatorischen Grundlagen zukünftiger emanzipatorischer Bestrebungen der »Allgemeinheit« auszuschalten. Besteht noch irgendein Zweifel, dass die »ehrenamtlichen sozialen Unternehmen« letztendlich von Großunternehmen übernommen werden?

Gerade einmal einen Tag nach der Ankündigung des »rights to provide« für Beschäftigte des öffentlichen Dienstes hat die britische Regierung einen Bericht veröffentlicht, demzufolge ein einziges Großunternehmen – Capita plc – bereits weite Bereiche öffentlicher Dienstleistungen in Großbritannien kontrolliert. Der neue Name, den die Medien (und nicht allein die Linkspresse) dem britischen Staat verpasst haben, ist nicht ohne Grund »Britain plc«.

Verwandte Artikel:

– Big Society?

Cameron & Clegg: Thatchers Enkel

Abrechnung mit dem Arbeitszwang. Die traurigen Parallelen englischer und deutscher Sozialpolitik

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3 Kommentare zu "Neoliberalismus nach der Krise"

  1. bhayes sagt:

    Der Begriff “Neoliberalismus” wird hier völlig falsch verwendet.
    Neoliberalismus bedeutet:
    – Freie Berufswahl, Handels- und Gewerbefreiheit
    – Vertragsfreiheit
    – Starke staatliche Institutionen, um Monopole, Dumping, Preisabsprachen etc. zu verhindern
    – Jeder haftet vollständig für eigene Taten und eingegangene Risiken
    Mit anderen Worten, niemand darf einem anderen etwas aufzwingen (können).
    Einige der im Artikel angesprochenen negativen Punkte dagegen haben NICHTS mit “neoliberal” zu tun, sondern mit knallhartem Ausbeutungsverhalten seitens der Politiker (in Zusammenarbeit mit bestimmten Gruppen), die ihr Gesetzgebungsmonopol missbrauchen.
    Die Übertragung privater Schulden auf den Staatshaushalt ist so ein Beispiel. Neoliberalismus würde so etwas NIE zulassen, da das “Liberal” in diesem Konzept es grundsätzlich nicht zulässt, dass jemanden durch Überwälzung der Haftung die Freiheit genommen bzw. eingeschränkt wird. Ein solches Überwälzen ist nicht liberal, sondern kriminell. Und dafür sind die Politiker verantwortlich.

  2. freyhausz-zimpinski sagt:

    @bhayes
    Was Sie dort abgegeben haben ist eine gelungene (Teil-)Definition von Liberalismus (vornehmlich Freiheit gegenüber staatlicher Gewalt). Der Begriff ‘Neoliberalismus’ ist ein, wie Sie ja schon selbst bemerkt haben, leerer Begriff; was Sie nicht erkannt haben ist, dass er auch ein Schleierbegriff ist. Dieser Begriff ist mittlerweile durch die Aktionen seiner Schöpfer und Träger (dazu gehört auch Cameron von den Conservatives and Unionists) stark negativ belegt, wie es eigentlich allen solchen Begriffen ergeht. Mit Liberalismus hatte Neoliberalismus aber von Anfang an nichts zu tun, sondern lediglich mit Privatisierung öffentlich-staatlicher Einrichtungen und Abbau der sozialen Sicherungssysteme. Diese Ziele sind nicht nur nicht typisch für den Liberalismus, sie sind ihm teilweise auch entgegen gesetzt. Soziale Sicherheit etwa ist eine der Grundlagen für freiheitliches Handeln in einem Staat.
    Aber wir können uns bestimmt auf Folgendes einigen: bei der Kritik dieser Missstände sollte man den Begriff ‘Neoliberalismus’ dekonstruieren und als Worthülse fallen lassen.

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